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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

954–956

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zitt, Renate

Titel/Untertitel:

Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831-1905). Eine Studie zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt 1997. 543 S. m. 8 Abb. u. 1 Taf. gr.8 = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 10. Kart. DM 36,-. ISBN 3-8253-7065-8.

Rezensent:

Bernhard Suin de Boutemard

Der in der diakoniewissenschaftlichen Studie als protestantischer Sozialreformer bezeichnete Jurist und Ministerialbeamte Theodor Lohmann wird in der Fachliteratur zur staatlichen Sozialpolitik und zur Wirkungsgeschichte des Central-Ausschusses der Inneren Mission als eine umstrittene Person angesehen. Der eine Historiker meint, schon im 19. Jh. hätte er als Vertreter der Inneren Mission ein sozialprotestantisches Modell der Sozialen Marktwirtschaft propagiert. Dagegen meint ein anderer, er hätte nur einen missionarisch begründeten Almosen-Idealismus vertreten.

Ebenso widersprüchlich sind die Urteile über Theodor Lohmann in der Geschichte der Sozialpolitik. Der eine sieht in ihm einen "integeren Beamten", der - von hohem lutherischen Berufsethos geprägt - für den staatlichen Bereich eine versöhnende Arbeiterpolitik zu verwirklichen gesucht hätte. Ein anderer hält ihn keineswegs für integer. Vielmehr hätte er seine "Kompetenz als Beamter bisweilen gewaltig überschritten" und seine politischen Ambitionen aus der zweiten Reihe verdeckt und missionarisch vertreten.

Schließlich sind die Auffassungen über die Tragfähigkeit seines sozialreformerischen Ansatzes ambivalent. Seine präventiv orientierte Sozial- und Arbeiterpolitik sei eine politikfähige Alternative zum kompensatorischen Modell der Arbeiterversicherungen Bismarcks gewesen, die im Interesse der Großindustrie gelegen hätten. Andere halten Lohmanns Konzeption nicht für tragfähig, weil sie sich nach Gutsherrenart an der paternalistischen Moralökonomie ländlicher und überschaubarer Einheiten orientiert hätte und nicht an den sozialstrukturellen Bedingungen der Erwerbs- und Kapitalökonomie der Industriegesellschaft.

Eine Person, die solch gegensätzliche Urteile auslöst, weckt auch heute noch die Neugier, so daß vor wenigen Jahren Günter Brakelmann in einer kleinen Abhandlung über "Theodor Lohmann - ein protestantischer Sozialpolitiker aus der Inneren Mission" erklärte: "Es dürfte an der Zeit sein, daß eine größere wissenschaftliche Arbeit über ihn, sein Leben und seine Leistung geschrieben wird." - R. Zitt hat sie jetzt vorgelegt und damit endlich die Monographie Hans Rothfels’ aus dem Jahre 1927 über "Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik (1871-1905)" revidiert und ergänzt, aus der bisher "die meiste Sekundärliteratur über Theodor Lohmann ihre Kenntnisse schöpfte" (36). Dadurch verändert sie in verdienstvoller Weise das in der Forschung zum Sozialprotestantismus tradierte Bild von Lohmann als eines weltfremden Ressortbeamten, der nach Rothfels gegenüber dem genialen Realpolitiker Bismarck letztlich scheitern mußte.

Theodor Lohmann hatte ab 1850 in Göttingen Rechts- und Staatswissenschaften studiert. In dieser Zeit wurde er stark von der Vermittlungs- und Vereinstheologie der Theologieprofessoren Friedrich Ehrenfeuchter und Friedrich Lücke beeinflußt. Einer der "wichtigsten Lehrer Lohmanns" (86) war auch der Jurist und frühe Gesellschaftswissenschaftler Lorenz von Stein. Ihn und sein Konzept der freien Vereine und Selbstverwaltungskörperschaften im System von Staat und Gesellschaft bezeichnet die Vfn. geradezu als einen der "hermeneutischen Schlüssel" zum späteren sozialreformerischen Ansatz von Lohmann (86). Die Hermannsburger Erweckungsbewegung und der Einfluß der genannten Lehrer prägten auch das von Lohmann vertretene lutherische Berufsethos und sein lebenslanges ehrenamtliches Engagement im Vereinswesen der Äußeren und Inneren Mission.

Elf Jahre war Lohmann Beamter im Königreich Hannover und nach der Annexion durch Preußen preußischer Beamter. 1871 war er im Handelsministerium Referent für die gewerbliche Arbeiterfrage und später unter Bismarck verantwortlich für die Sozialgesetzgebung. 1880 wird er als sozial engagierter Laie und konfessionell ausgewiesener Lutheraner in den Centralausschuß der Inneren Mission gewählt, dem er bis zu seinem Tode 1905 angehörte. 1883 kam es zum Bruch mit Bismarck und erst ab 1890 gewinnt er unter Handelsminister von Berlepsch wieder Einfluß auf die staatliche Sozialpolitik und wird Unterstaatssekretär.

In der Zwischenzeit trat er 1884 als Verfasser der Denkschrift des Centralausschusses über "Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart" hervor. Die Ergänzung der caritativen Arbeit der Inneren Mission durch ein sozialpolitisches Strukturprogramm wird im wesentlichen dem Verfasser der Denkschrift zugeschrieben, auch wenn er um des Kompromisses willen einige seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen zurückstellen mußte und erst in seiner Schrift "Der gegenwärtige Augenblick" von 1890 seine "Vision eines umfassenden Zusammenwirkens" von staatlicher Sozialpolitik und Innerer Mission (430) öffentlich vertreten konnte. Theodor Lohmann gilt als der "profilierteste Vertreter des deutschen Sozial- und Verbandsprotestantismus in der höheren Beamtenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts" (41) und als früher Exponent der diakonischen Strategie von "Wichern II". Die Untersuchung von Z. arbeitet diese Zusammenhänge gründlich auf.

Darüberhinaus leistet sie einen wissenschaftstheoretischen Beitrag zur Diakoniegeschichte, die sie erstens "als Integrationsgeschichte" von Kirchen- und Allgemeingeschichte behandelt und zweitens um die "diakoniewissenschaftliche Perspektive ... der angemessenen Antwort der Christen auf gesellschaftliche Herausforderungen und um Orientierungswissen für die Gegenwart" (23) ergänzt. Schließlich aber versteht sie Diakoniegeschichte auch als "Paradigma" für die "gesellschaftliche Diakonie" von Laien (a. a. O.), die "Impulse ... zur Orientierung bei gegenwärtigen Fragestellungen erarbeitet" (16).

Unbeschadet der vorsichtigen Art und Weise, in der die verschiedenen Vorverständnisse und erkenntnisleitenden Interessen der divergierenden Urteile über Theodor Lohmann hermeneutisch behandelt werden, bleibt auch in dieser Studie Lohmann "eine schillernde Gestalt mit vielen Facetten" (444). Sie kommt aber dennoch zu dem Ergebnis, daß durch den Einfluß des Nichttheologen und Ministerialbeamten Lohmann schon die sozialpolitische Konzeptbildung der Inneren Mission "durchaus staats- und kirchenkritische Akzente" trägt und den "Schritt hin zur strukturellen Sozialpolitik" vollzogen hat, der "in der Diakoniegeschichtsschreibung ... meist erst dem 1890 gegründeten Evangelisch Sozialen Kongreß" zugesprochen wird (34).

Es ist ein Vorzug dieser Studie, daß sie das Verhältnis von staatlicher Sozialpolitik und Innerer Mission nicht abschließend behandelt, sondern die historische Forschung zur Sozialpolitik und zum Sozialprotestantismus zu neuen Fragen anregt. Dazu gehören Fragen nach den mentalitäts- und sozialisationstheoretischen Unterschieden der Begründung und Formierung des lutherischen Berufsethos bei Beamten in den Königreichen Hannover und Preußen (vgl. 444), aber auch eine sozialgeschichtliche Untersuchung der Hermannsburger Erweckungsbewegung, die Lohmann stark geprägt hat. Die von Gerhard Uhlhorn 1899 in der Realenzyklopädie vorgelegte theologische Beurteilung der Erweckungsbewegung und ihres Begründers Ludwig Harms, auf die sich die Studie von Z. bezieht, berücksichtigt nicht den radikalen sozialen Wandel der ländlichen Lebens-, Sozial- und Arbeitsverhältnisse durch die Aufhebungen der Agrarverfassung, der Leibeigenschaft, des Ehekonsens und der moralökonomischen Absicherung der ländlichen Arbeitsverhältnisse. Erwerbs- und Marktwirtschaft, Bevölkerungsexplosion, Massenarbeitslosigkeit und Auswanderung waren die Folgen dieser Ersten Moderne, mit der sich die Erweckungsbewegung gemeindepädagogisch und sozialdiakonisch auseinandersetzte.

Es wäre zu begrüßen, wenn die Vfn. ihre vorliegende Studie fortsetzen könnte durch eine sozialgeschichtliche Studie über die Hermannsburger Erweckungsbewegung und ihren Einfluß auf das Konzept der "gesellschaftlichen Diakonie" Lohmanns. Vielleicht klärt das, was an ihm noch "schillernd" geblieben ist.