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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

674-675

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Axt-Piscalar, Christine, u. Mareile Lasogga [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie Luthers. Hrsg. im Auftrag d. Vereinigten Evang.-Luth. Kirche Deutschlands (VELKD).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 225 S. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03931-9.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Im Kontext der Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum erscheint mit diesem Aufsatzband eine Veröffentlichung des Theologischen Ausschusses der VELKD. Mit der Kernaussage der reformatorischen Einsichten Luthers bringen die Beiträge in diesem Band nicht nur das reformatorische Selbstverständnis zur Darstellung, sondern es gelingt ihnen auch, die Gegenwartsrelevanz der theologischen Weichenstellungen der Reformation aufzuzeigen.
Demnach ist zu unterscheiden zwischen historischen Bestimmungen, die systematisch nicht überstrapaziert werden dürfen und sollen, auf der einen und den Implikationen, die für die Mo-derne in Extrapolation und Prolongation bestimmter Inhalte in Anschlag gebracht werden können, auf der anderen Seite. Die immer wieder schwierige Frage, ob die ins Moderne gewendete Freiheitsthematik denn nun auch tatsächlich bereits den Überzeugungen Luthers entsprochen habe, oder ob Luther rückschauend für die Moderne vereinnahmt wurde, wird in diesem Band minutiös analysiert und einem ausgewogenen Urteil unterzogen. So unterstreichen die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung, dass, wenngleich die Wirkungsgeschichte Luthers nicht nur »das kirchliche, sondern auch das gesamtkulturelle Bewusstsein direkt und indirekt beeinflusst« (7) hat, und hier ist insbesondere der »Schub an Freiheitbewusstsein« (7) hervorzuheben, gleichwohl dieses »nicht unmittelbar mit dem (vermeintlich) säkularen Freiheitsbewusstsein des modernen Menschen gleichgesetzt werden« (8) kann. Dessen ungeachtet ist das vorliegende Buch von der Überzeugung geleitet, dass Luthers Freiheitsverständnis in der säkularen Gegenwart Gehör finden sollte, und zwar nicht nur unter Christinnen und Christen. Insofern sind die Beiträge bemüht, Luthers Gedankenwelt – sowohl historisch als auch systematisch – den Leserinnen und Lesern näherzubringen.
Indem einschlägige Themen ausgewählt wurden, die mit zentralen Luthertexten verknüpft sind, ergibt sich eine Fokussierung auf Luthers Freiheitsverständnis, das sich durch die innere Verschränkung der Freiheit als Freiheit von sich selbst und Freiheit als Dienst, als Unfreiheit gegenüber Gott und Freiheit gegenüber der Welt, als geistliche und politische Freiheit in der Unterscheidung der Zwei Reiche auszeichnet. Aus dieser dialektischen Verschränkung der Freiheit, die sich genuin der Erkenntnis der Freiheit aus Glauben verdankt, werden die Konsequenzen gezogen und auch bestätigt, die sich aus der daraus gewonnen Wirklichkeitssicht ergeben. Aber zunächst wird dargelegt, worauf diese Erkenntnis sich aufbaut, nämlich auf dem unhintergehbaren Stellenwert der Schrifthermeneutik.
So ist für Uwe Becker klar, dass Luther »in der rechten Auslegung der Schrift das wesentliche Erkennungsmerkmal der Theologie insgesamt sieht« (20). Schließlich war diese Ursprung seiner Erkenntnis über das Wesen der Gerechtigkeit Gottes und damit seiner Gotteserkenntnis. Die Schrifthermeneutik aber ist gebunden an den freiheitlichen Umgang mit der Schrift. Diese ihre Freiheit resultiert jedoch gerade aus der christologischen Bindung als ihrem Orientierungskriterium. Ebenfalls dieser Freiheit – und zwar im konkreten alltäglichen Leben des Einzelnen – dient das Studium des Katechismus, das als Anleitung zu praktischem und mündigem Christsein dient und als Konsequenz aus der Beachtung des ersten Gebots Freiheit einsetzt und zugleich begrenzt. Diese Begrenzung entlastet und ermöglicht gerade dadurch ein Handeln, das allein aus einer Freiheit resultieren kann, die die Fragmentarität und Verfehlung des Menschen nicht verleugnen muss. Christine Axt-Piscalar führt in ihren beiden Beiträgen zum Großen Katechismus diese existentielle Einübungsdimension mit der qualitativen Freiheitserfahrung in der Abwendung von den endlichen Gütern und der Anerkennung des ersten Gebots zusammen und kann so die Linie der reformatorischen Kerneinsichten, die zur Freiheit eines Christenmenschen gehören, fortschreiben.
Die Beiträge von Notger Slenczka (»Von der Freiheit eines Christenmenschen«) und Rochus Leonhard (»De servo arbitrio«) nehmen mit den beiden Freiheitsschriften die Freiheitsthematik bei Luther selbst auf. Das Zwischensein des Menschen zwischen Freiheit und Unfreiheit wird hier in das Koordinatenkreuz innerer und äußerer, religiöser und politischer Freiheit, Freiheit vor den Menschen und Freiheit vor Gott eingespannt und mit modernen Fragen in Verbindung gebracht, die – so bei Leonhardt – auch die neuere Diskussion um die Willensfreiheitsdebatte einschließen. Beide zeigen, dass Luther durchaus Eigenes zum modernen Freiheits- bzw. Unfreiheitsverständnis beizutragen hat, das die Diskussion um bisher nicht thematisierte Aspekte bereichern kann. Damit wird nicht nur Luther in seiner Relevanz für die Moderne rehabilitiert, sondern auch die Dimension des Glaubens für die existentielle Verständigung über seine Identität zum Zuge gebracht. Ein kirchengeschichtlicher Beitrag von Wolf-Friedrich Schäufele zu Luthers politischem Freiheitsverständnis, wie es in der Zwei-Reiche-Lehre in der Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Regiment und deren Verhältnisbestimmungen von Freiheit und Zwang enthalten ist, schließt die theoretischen Auseinandersetzungen um Luthers Freiheitsverständnis ab. Eine ins Existentielle gezogene Linie der Freiheit, die entsprechend der reformatorischen Grundeinsicht die Buße als Gestaltungprinzip solcher Freiheit erkennt, rundet den Band – mit einer Andacht von Mareile Lasogga – ab und setzt die Behauptung der Gegenwartrelevanz von Luthers Freiheitverständnis auch in dieser Hinsicht in ihr Recht.
Für Lehrende und Studierende, für Glaubensinteressierte und das Leben hinterfragende Menschen bietet diese pointierte Zusammenfassung von Luthers reformatorischer Kerneinsicht, die an wenigen Schlüsselthemen durchbuchstabiert wurde, einen wertvollen Bildungsbeitrag.