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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

672-673

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lacoste, Jean-Yves

Titel/Untertitel:

L’intuition sacramentelle et autres essais.

Verlag:

Genf: Éditions Ad Solem 2015. 240 S. = Philosophie. Kart. EUR 23,00. ISBN 978-2-37298-001-2.

Rezensent:

Jean Greisch

Das Buch vereinigt acht Aufsätze, in denen Jean-Yves Lacoste sein Verständnis einer Fundamentaltheologie, für welche die Zusammenarbeit von Philosophie und Theologie eine Schlüsselrolle spielt, auf den Prüfstand stellt. Angenommen, dass Philosophen und Theologen einander zu denken geben, sind beide heute mit der Frage der Überwindung der Metaphysik konfrontiert, eine Frage, die L. in Auseinandersetzung mit und im Rückgriff auf Husserl, Heidegger und Levinas in Angriff nimmt. Der hier kritisierte Begriff der Metaphysik verteidigt das Privileg der ständigen Anwesenheit, die L. zufolge dem Ereignischarakter der Präsenz nicht gerecht wird. Eine phänomenologische Beschreibung der verschiedenen Erfahrungen der Präsenz verbietet jede metaphysische Engführung.
Besonders deutlich greifbar ist diese Argumentationslinie im dritten Kapitel des Buches, das die übrigen Aufsätze wie konzentrische Ringe einrahmen. Die Verbindung der Begriffe »Sakrament« und »Anschauung« überrascht, denn dem ersten Anschein nach ist das Sakramentale wesensgemäß unanschaulich. Falls man den Begriff der »Anschauung« mit Husserl im weitmöglichsten, nicht auf die sinnliche Anschauung beschränkten Sinn versteht, verschiebt sich das Problem auf die Frage, inwiefern das Sakramentale und das Symbolische sich voneinander unterscheiden. Das Augustinische Axiom, dem zufolge erst dort, wo das Wort sich mit dem Element verbindet, das Sakrament entsteht, liefert L. den Schlüssel für ein Verständnis des Sakramentalen in dem das Sinnliche und das Geistige einen unauslöschlichen Bund miteinander eingehen. Schlussendlich führt das zu einer Frage, die seit Expérience et absolu L.s Denken beherrscht: Inwiefern unterscheidet die sakramentale Anschauung sich von der Anschauung, die den religiösen Phänomenen als solchen zugrunde liegt, bzw.: Was unterscheidet den homo religiosus grundsätzlich vom homo capax Dei? Die Antwort fasst eine These zusammen, die wie zahlreiche andere L.s Kunst prägnanter Formulierungen illustriert: »Wir werden in der Lebenswelt oder der Welt der Existenz geboren, wir werden nicht in einer Welt des Glaubens geboren, die wir erst konstituieren und sich konstituieren lassen müssen.« (88)
Der in dieser These vorausgesetzte Begriff der Existenz ist der Auslöser eines Problems, dem L. im 4. Kapitel nachgeht: Wie verhalten Existenz und Erfahrung sich zueinander? Das, was er als »Sack-Theorie« (98) bezeichnet, betrachtet alle Erfahrungen unterschiedslos als Bekundungen des menschlichen In-der-Welt-seins. Demgegenüber plädiert er für eine »Topologie der Existenz« (101), welche den Wesensunterschieden der Erfahrungen Rechnung trägt. So unterscheidet sich etwa das Phänomen des Friedens grundsätzlich vom In-der-Welt-Sein als solchen, wie Levinas zu Recht betont hat. Letzten Endes führt das L. zu einer Heidegger gegenüber »ketzerischen« These: Es ist nicht undenkbar, dass die Existenz nicht der eigentlichste Modus des Menschen, sondern nur einer dieser Modi ist (124).
Kapitel 5 bis 7 illustrieren einige wichtige Konsequenzen dieser These für eine theologische Ethik. Eine »theologische Kritik des erotischen Phänomens« (142) stellt sich zur Aufgabe nachzuweisen, worin der Überschuss der Liebe gegenüber anderen Formen der Intersubjektivität und der Fürsorge besteht, ein Überschuss, der letztendlich in einer »dilectio archetypa« gründet, die sich auf der zwischenmenschlichen Ebene als Bundestreue manifestiert. Von hier aus eröffnet sich ein neuer Blick auf den bereits erwähnten Gegensatz von Krieg und Frieden, den L. im 6. Kapitel anhand einer vergleichenden Analyse von Heidegger und Levinas sowie der theologischen Position von O’Donovan in Ressurection and Moral Order entfaltet. Ihren krönenden Abschluss finden diese moraltheologischen Einblicke im Kapitel 7, in Form eines Kommentars des Gebots der Feindesliebe in Mt 5,38–43. Verständlich wird dieses »verrückte« Gebot nur in der Perspektive einer theo-logisch-eschatologischen Anthropologie, die eine Kritik aller Le­bensvollzüge impliziert, die sich im Rahmen der bloßen Grenzen der Welt bewegen, wie weise diese auch gestaltet und bewältigt werden.
Das 8. Kapitel, das sich mit den Schwierigkeiten des Substanzbegriffs im Bereich der Philosophie, der Christologie der Trinitätstheologie und der Theologie der Eucharistie beschäftigt, bietet L. eine neue Gelegenheit, seine Auffassung des Verhältnisses von Philosophie anhand eines präzisen Begriffs zu erläutern. Strenggenommen sind Philosophie und Theologie beide Spätgeburten, weil sie mit einem Sprachmaterial arbeiten, das ihnen vorausgeht und das sich nicht reibungslos den Forderungen der Begriffsarbeit unterwirft. Diesbezüglich sind die Verdienste, welche die Philosophie der Fundamentaltheologie leistet, unbestreitbar, wie umgekehrt eine kritische Interpretation der philosophischen Texte keine Option, sondern ein Imperativ der Theologie ist.