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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

660-662

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schreiber, Gerhard

Titel/Untertitel:

Apriorische Gewissheit. Das Glaubensverständnis des jungen Kierkegaard und seine philosophisch-theologischen Voraussetzungen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 488 S. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 30. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-031560-8.

Rezensent:

Walter Dietz

Die Studie nimmt sich vor, das Glaubensverständnis des jungen Kierkegaard (1830–41; cf. 9 f.) zu erörtern, und ist im besten Sinn eine Spezialstudie, die nicht um großflächige Zuordnungen, sondern um detaillierte Erforschung eines bestimmten Aspekts im Denken Kierkegaards bemüht ist. Die Arbeit, die von H. Schulz betreut und 2012 als evangelisch-theologische Dissertation in Frankfurt am Main eingereicht wurde, geht von der These aus, dass sich bereits in Kierkegaards Studienzeit die Grundlagen seines Glaubensverständnisses herauskristallisiert haben. Glaube werde dabei als »apriorische Gewissheit« beschrieben (27), wobei »apriori« nicht für vernunftbegründet oder unbedingt, sondern für erfahrungsenthoben (101) stehen soll (vgl. zur Apriorität als Unmittelbarkeit auch 288.320.325: Glaube ist Unmittelbarkeit, aber nicht jede Unmittelbarkeit ist Glaube).
Im Blick auf das Versöhnungswerk Christi kritisiert Kierkegaard das s. E. flache und unterbelichtete Glaubensverständnis bei Clausen und Schleiermacher (32–38). S. hebt zu Recht hervor, dass Kierkegaard hier das orthodoxe Versöhnungskonzept voraussetzt und es auch nicht auf den subjektiven Aneignungsaspekt reduziert (37, Anm. 44). Er stellt andererseits auch die große Übereinstimmung Kierkegaards mit Schleiermacher (CG² § 12.2) heraus, was die These der Neuheit, d. h. Unableitbarkeit des Christentums aus dem Ju­dentum, angeht (39 f., Anm. 54). Im Blick auf die – durch Hamann bestätigte (64.66) und auch später beibehaltene – These einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von Philosophie und Christentum beziehe sich Kierkegaard 1835 noch nicht kritisch auf die »hegelsche Philosophie«, die erst später in den Fokus rücke (61). Für Kierkegaard ist es falsch, den Glauben als etwas Unmittelbares zu fassen. Dass sich diese Kritik nicht gegen Hegel richtet, sondern auf Schleiermacher bezogen ist, zeigt S. anhand von Pap 92 (72 ff.). Er stellt in einer aus Schleiermachers Sicht sehr gelungenen Argumentation heraus, dass jene Kritik Kierkegaards »keineswegs gerechtfertigt« ist (83), da Schleiermachers Begriff des Gefühls eine sprachlich-geschichtlich vermittelte Unmittelbarkeit darstelle. Dass Kierkegaard Schleiermachers Intention verkennt, beruhe auch auf einem Übersetzungs- bzw. Lesefehler von § 6.1 (86) in Erdmanns Glauben und Wissen (1837). Erdmanns Konzept des »unbefangenen Glaubens« sei dennoch inspirierend für Kierkegaards Glaubenskonzeption gewesen (210), die Glaube als apriorische Unmittelbarkeit versteht (was übrigens noch deutlicher in Relation zu Schleiermacher gestellt werden könnte).
Ein Schlüsselbegriff ist somit der der »Unmittelbarkeit«, den S. u. a. im Anschluss an A. Arndt auslotet. Allerdings wird bei S. zu wenig deutlich (z. B. 188 f. im Blick auf Enz § 555), dass Hegel diese Form der Unmittelbarkeit kritisch sieht (vgl. bereits Glauben und Wissen 1802), während Kierkegaard die Unmittelbarkeit und Authentizität (Apriorität) des Glaubens positiv geltend macht (vgl. z. B. Climacus’ Theorie einer »Autopsie des Glaubens«).
In der Auseinandersetzung mit Lessing gewinnt Kierkegaard seine spezifische Nuancierung des Christusbezugs des Gläubigen, der nicht durch eine äußere Geschichte vermittelt ist (»Gleichzeitigkeit«). S. zeigt hier schön auf, wie Kierkegaards Befassung mit Lessing durch D. F. Strauß vermittelt ist (376–82). Noch deutlicher hätte auch der »Sprung«-Begriff auf die Grundthese einer »Apriorität« des Glaubens bezogen werden können. Aber es wird schön klar, wie sich Kierkegaard gegen Lessing abgrenzt und zugleich im Paradox-Begriff (dieser sei wesentlich durch Hamann beeinflusst, 36–39.63–72.266.291: als Gegenbegriff zur Hegelianischen Mediation) die spekulative Überhöhung bzw. Entgrenzung der Christologie abwehren will. Der Glaube an Christus als den Gott-Menschen lässt sich so nach Kierkegaard weder kantianisch auflösen (285) noch hegelianisch auf eine universal-menschheitliche Bedeutung der Inkarnation ausweiten. Das Paradox wird somit zum Schlüsselbegriff seines Glaubensverständnisses.
Durch Beschränkung auf die Früh- und Climacus-Schriften klammert S. allerdings den originellen Glaubensbegriff des reifen Kierkegaard (insbesondere in der Krankheit zum Tode) vollständig aus (Glaube als sich selbst durchsichtig Werden und durchsichtig Gründen in Gott, der das Selbst als sich zu sich selbst verhaltendes Verhältnis gesetzt hat), weshalb die Pointe von Kierkegaards Glaubensbegriff (gerade auch im Gegenüber zur Sünde als Verzweiflung vor Gott) außen vor bleibt. Dort wird Glaube gerade eben nicht als Sprung (vgl. 309) und Paradox aufgefasst (paradox ist vielmehr die Sünde). Einerseits ist dies durch S.s apriorische Beschränkung auf die Frühschriften gerechtfertigt; andererseits hält sich das Buch selber nicht an diese Vorgabe und greift öfters auf den reifen und späten Kierkegaard aus (z. B. 317 auf 1849 ER). Was methodisch als Fehler erscheint, ist inhaltlich durchaus gerechtfertigt und erhellend. So wird im Blick auf das Spätwerk im Anschluss an H. Gerdes und vor allem H. Fischer aufgezeigt, dass dort der Glaube nicht mehr als »verborgene Unkenntlichkeit« verstanden wird, sondern immer deutlicher auch als konfrontative Absage an die Welt. S. verdeutlicht, dass hierfür bereits früh Weichenstellungen zu finden sind, etwa die Auseinandersetzung mit Magister Adler (172 f.299) und überhaupt mit dem Kopenhagener Hegelianismus (Heiberg; Martensen); ferner die Corsar-Affäre, in der Kierkegaard als skurriler Außenseiter persifliert wird (in einer nach heutigen Maßstäben doch eher harmlos-blöden Form der Satire; im Kampf gegen den Herausgeber Goldschmidt ist bei Kierkegaard wohl – anders als S. vermutet – kein »Antijudaismus« am Werk, 422). Während Hegel die Christologie spekulativ auflöse, mache Luther beide Momente stark: Christus als Gabe und als Vorbild. Wie S. zeigt (430), versteht sich Kierkegaard hier als Korrektiv gegen Luthers seinerzeit berechtigte Abwehr der Imitatio-Frömmigkeit, die sich im Kontext mittelalterlicher Theologie vom neutestamentlichen Boden entfernt hatte.
Die Arbeit besticht durch filigrane Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, weniger durch den Blick für übergreifende Zusammenhänge. Die Freude am Detail mag spitzfindig anmuten, oft führt sie aber zu profunden Beobachtungen, die einen wesentlichen Beitrag zur Einordnung Kierkegaards liefern. Es wird deutlich, wie sich Kierkegaard über Martensen und Heiberg durchaus intensiv mit Hegelscher Logik und Dialektik befasst hat. Zugleich stellt S. heraus, wie die gründliche Befassung mit Erdmanns Schrift Glauben und Wissen Kierkegaard dazu bringt, fundamental über Bedeutung und Struktur des Glaubens nachzudenken. Als Schlüsselphase für die Ausreifung seines Glaubensbegriffs macht S. – zunächst von deren Thematik (Begriff der Ironie) nicht evident – die Dissertationsphase 1841/42 geltend (399). Die durch F. Chr. Baur motivierte Gegenüberstellung von Sokrates und Christus führe ihn zur Herausstellung der Unähnlichkeit beider: Sokrates verhalte sich rein negativ (»Ironie«) und bringe seine Person zum Verschwinden, während Christus den unbedingten Glauben fordere und (im Sinn von Joh 14,6) mit seiner Person verknüpfe.
Von da aus ist es allerdings noch weit bis hin zu dem Glaubenskonzept, das sich beim späten Kierkegaard exklusiv an Nachfolge, Leiden und Entsagung festmacht. In diesem Zusammenhang diskutiert S. die Einflüsse von Mystik (Tauler u. a.) und Pietismus (Zinzendorf, Tersteegen), wobei es schwierig sei, handfeste Abhängigkeiten aufzuzeigen (424 ff.). S. gerät hier an die aus der bisherigen Kierkegaard-Forschung bereits bekannten Grenzen, was man ihm nicht zum Vorwurf machen sollte.
Die gelegentlich spröde und detailverliebt wirkende Studie schafft es im letzten Kapitel (Ausblick, 404 ff.) noch einmal den Blickwinkel zu öffnen und das Besondere des Glaubensverständnisses beim jungen Kierkegaard gerade vom reifen und späten Kierkegaard her in den Blick zu nehmen. Dass S. Kierkegaards theologische Entwicklung nicht so sehr von der Ver- und Entlobungsgeschichte (Regine) her aufschlüsselt (414 ff., vgl. Hirsch), spricht m. E. für ihn und seine wissenschaftliche Seriosität. Denn entscheidend für den Wert seiner Studie ist ja nicht zuletzt, dass er Kierkegaard nicht nur »allzumenschlich« oder als reinen Dichter in den Blick nimmt, sondern den theoretischen Anspruch seines Glaubensbegriffs stark macht. Hier hätte außer auf den jüngeren Fichte auch stärker auf Jacobi und Schleiermacher eingegangen werden können. Richtig ist S.s These, dass Kierkegaards Hegelkritik nicht dazu führen darf, ihn in einem schroffen Affront gegen Hegel zu sehen (wie das eher für Schopenhauer gilt, den Kierkegaard erst ab 1854 rezipierte, 424). Damit werden gewisse Vorurteile der älteren Kierkegaard-Forschung erfreulicherweise überwunden (z. B. H. Schweppenhäuser 1967 mit skorpionhafter Abwehrstellung gegen Kierkegaards »Angriff« auf Hegel, 407). Alles in allem ist S.s Studie ein wichtiger Forschungsbeitrag, der mehr durch seine Liebe zum Detail als durch großflächige Thesen besticht.