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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

658-660

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schmidtke, Sabine

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ›Lebendige Empfänglichkeit‹ als soteriologische Schlüsselfigur der ›Glaubenslehre‹.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. IX, 374 S. = Dogmatik in der Moderne, 11. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153780-6.

Rezensent:

Juliane Baur

In der Einleitung des zu besprechenden Werks von Sabine Schmidtke wird von der Autorin festgestellt, dass es Teile der Glaubenslehre Schleiermachers gibt, die noch nicht oft Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Darstellung wurden. Einem davon wendet sie sich selbst mit ihrer Arbeit zu: der Rekonstruktion und Kontextualisierung der Lehrstücke von Wiedergeburt und Heiligung. Ihr Ziel ist dabei nicht nur, aufzuzeigen, welche Bedeutung diese Lehrstücke für das Verständnis der Glaubenslehre insgesamt haben, sondern zugleich einen Beitrag zum Verständnis der Lehre von der Heilszueignung und Heilsaneignung zu leisten. Der methodische Weg dorthin läuft zum einen über die Rekonstruktion der Lehrstücke im Kontext der Glaubenslehre, bei der besonders auf Analogien zur Durchführung der Christologie bei Schleiermacher hingewiesen wird, zum anderen durch den kritischen Vergleich mit der Tradition der Lehre von der Heilszueignung und Heilsaneignung, insbesondere anhand der Position Philipp Melanchthons. Ihr Vorgehen, eine werkimmanente Interpretation durch einen traditionsgeschichtlichen Vergleich zu ergänzen, sieht sie durch Schleiermachers Verständnis dogmatischer Theologie als Teil der Historischen Theologie legitimiert. Zugleich zeigt dieses Vorgehen S.s Nähe zu den theologiegeschichtlich orientierten systematisch-theologischen Arbeiten ihrer Doktormutter Friede-rike Nüssel. Schlüsselbegriff, anhand dessen S. Schleiermachers Verständnis von Wiedergeburt und Heiligung entwickelt, ist der Begriff der »lebendigen Empfänglichkeit«, der in der ersten Auflage der Glaubenslehre nur selten erwähnt wird, in der zweiten Auf-lage aber eine hervorgehobene Bedeutung bekommt. Da es in der deutschsprachigen Forschung, wie S. in ihrem knappen Forschungsüberblick darlegt, keine Arbeit zu den Lehrstücken von Wiedergeburt und Heiligung mit vergleichbarer Methodik gibt, will sie mit ihrer Untersuchung eine Forschungslücke füllen.
Die Gliederung der Arbeit ist übersichtlich und wird klar begründet. In jedem einzelnen Kapitel wird nochmals benannt, welche Bedeutung der jeweilige Abschnitt für den Argumentationsgang der gesamten Arbeit hat: Um die Rekonstruktion der Lehre von Wiedergeburt und Heiligung in ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre insgesamt herausstellen zu können, sei es gemäß der Gesamtanlage bei Schleiermacher zunächst erforderlich, sich der Sündenlehre zuzuwenden, weil sie das negative Pendant zur Soteriologie bildet. Da Christologie und Soteriologie eng verzahnt sind, was S. an mehreren Stellen immer wieder betont, folgt dann eine knappe Einführung in die Christologie. Auch auf die Schöpfungslehre Schleiermachers geht S. in einem kürzeren Abschnitt ein, was jedoch im Gesamtduktus ihrer Untersuchung weniger klar plausibilisiert wird als die übrigen Abschnitte. Bei der Rekonstruktion der Lehre von Wiedergeburt und Heiligung anhand der lebendigen Empfänglichkeit als Schlüsselbegriff wird deutlich, dass das Hauptinteresse S.s darin liegt, einen Beitrag zur Frage der Heilszueignung zu leisten durch den Aufweis, dass es Schleiermacher gerade mit seiner besonderen Begrifflichkeit und in Anknüpfung an die reformatorische Tradition darum gehe, jegliche Mitwirkung des Menschen an seinem Heil zurückzuweisen. Dem dient auch der im letzten Teil der Untersuchung angestellte Vergleich mit Melanchthon. Hier geht es S. nach einer knappen und präzisen Darstellung Melanchthons darum, Ge­meinsamkeiten und Unterschiede zu Schleiermacher herauszustellen, vor allem jedoch darum, Melanchthon selbst von jeglichen Synergismusvorwürfen zu entlasten. Dass die Wahl gerade auf Melanchthon fiel, liegt daran, dass die Anzahl von Bezügen auf von ihm verfasste oder beeinflusste Bekenntnisse, wie S. bemerkt, höher ist als die Bezüge auf andere Reformatoren oder Traditionen. Sie vermutet darüber hinaus, dass Schleiermacher Melanchthons Loci natürlich bekannt gewesen sein müssten. Ein die Kernpunkte wiederholendes Fazit schließt sich am Ende an.
S.s Studie ist gründlich gearbeitet. Hervorzuheben sind die detailreichen Untersuchungen zur Verwendung einzelner Begriffe bei Schleiermacher, bei Melanchthon und in den von Schleiermacher benutzten reformierten und lutherischen Bekenntnissen. Die Rekonstruktion der einzelnen Lehrstücke wird relativ kleinteilig vorgenommen und ist vom Stil her in einer Mischung aus Zitaten, paraphrasierendem Referat und deutenden Überlegungen ge­schrieben. Die Sätze sind hier zuweilen sehr lang und bieten gegenüber dem Schleiermacherschen Original wenig Erleichterung. Erhellend sind die immer wieder gezogenen Querverbindungen zwischen den einzelnen Loci. Andere Forschungsarbeiten werden dagegen zuweilen pauschal verurteilt.
Über der Betonung des in der Tat zentralen Begriffs der »lebendigen Empfänglichkeit« wird ein anderer für das Schleiermachersche Denken wichtiger Aspekt etwas vernachlässigt: So wäre es für die Gesamtrekonstruktion durchaus hilfreich gewesen, den für Schleiermacher ausgesprochen wichtigen Umgang mit Gegen-satzpaaren systematisch zu erhellen. Dieser scheint jedoch nur in Nebenbemerkungen auf, obwohl es doch gerade dieser systematische Denkansatz ist, der bei Schleiermacher über die inhaltlichen Verbindungen hinaus auch zu den von S. so betonten strukturellen Analogien zwischen Christologie und Soteriologie – und im Übrigen auch anderer Loci – führt. Diese Nichtbeachtung der Implikationen des Gegensatzgebrauchs bei Schleiermacher – alle Gegensätze sind relativ, ein Begriff enthält in sich immer auch ein Minimum des anderen; gegensätzliche Aspekte, und zwar oft ein eher statischer und ein eher dynamischer Aspekt, bilden eine relative Einheit – führt an manchen Stellen dazu, dass Schleiermacher selbst eine gewisse Unklarheit oder mangelnde Präzision in seiner Begrifflichkeit unterstellt wird, die jedoch eben gerade durch diesen Gegensatzgebrauch bedingt ist. Beispielhaft sei etwa angeführt, dass S. das Gegenüber von Wiedergeburt und Heiligung mit den Begriffen »Anfang« und »Zustand« beschreibt, wodurch jedoch die bei Schleiermacher implizierte ständige Wiederholung des Moments der Wiedergeburt einerseits und die Dynamik des konkreten Lebensvollzugs, um die es bei der Heiligung geht, nicht abgebildet wird, so dass die Pointe bei Schleiermacher von S. zu­mindest nicht vollständig erfasst scheint. (»Wie in der Christologie zur Beschreibung der Person des Erlösers zwischen deren Anfang und Zustand unterschieden wird, so sei dieser Unterschied hier hinsichtlich der Person der Erlösten geltend zu machen: Der Anfang der frommen Persönlichkeit wird als Wiedergeburt, ihr Zustand als Heiligung beschrieben.« 194 f.) Dies mag unter Um­ständen eine Kehrseite des Ansatzes sein, Schleiermachers Be­grifflichkeit theologiegeschichtlich herzuleiten und weniger werkimmanent zu interpretieren. Der Anspruch S.s besteht zwar darin, beides im Blick behalten zu wollen, die Seite der Tradition wird faktisch jedoch etwas stärker betont, was als hermeneutische Perspektive hätte benannt werden sollen.
Mit S.s Arbeit liegt eine Studie vor, die viele Anregungen bie-tet für die Frage der Verwendung einzelner Begrifflichkeiten bei Schleiermacher und die vor allem seinen bislang wenig beachteten Bezug auf Melanchthon deutlich zum Ausdruck bringt. Da Schleiermacher sonst meist stärker in der reformierten Tradition gesehen wird, ergeben sich damit neue Aspekte der Schleiermacherinterpretation. Darüber hinaus leistet die Studie – wie von S. erhofft – einen Beitrag zur Frage der Heilszueignung.