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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

656-658

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rode, Christian

Titel/Untertitel:

Zugänge zum Selbst. Innere Erfahrung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2015. XI, 516 S. = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, 79. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-402-10290-9.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Christian Rode fragt in seiner Habilitationsschrift, eingereicht 2014 an der Philosophischen Fakultät in Bonn bei Theo Kobusch, danach, welchen Zugang wir zu »unserem eigenen Selbst und dessen Eigenschaften und Tätigkeiten« haben. Dieser Frage will R. mit dem Begriff der inneren Erfahrung und dem des Selbstbewusstseins, wie er sich vom hohen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit entwickelt hat, nachgehen. Er befasst sich dabei vor allem mit franziskanischen Denkern; außer Thomas wird kein Dominikaner in die Untersuchung einbezogen. Hätten nicht wenigstens Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart genannt werden müssen? Im Mittelalter haben die Ordenstheologen sich doch nicht nur auf die Denker des eigenen Ordens bezogen.
Von der antiken Vorgeschichte ausgehend befasst sich R. mit Thomas, Siger von Brabant, Olivi, Vital du Four, Duns Scotus, Petrus Aureoli, Ockham, Walter Chatton, Adam von Wodeham, Gregor von Rimini, Peter von Ailly, George Lokert, Suarez und zu­letzt mit Descartes, also mit bekannten und weniger bekannten Autoren. Das sind natürlich nicht nur Franziskaner, aber ihnen gilt – ohne Begründung – R.s besondere Aufmerksamkeit. Die Arbeit endet mit einer Synopsis; beigefügt sind Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister. R. fragt jeweils, ob die Denker eine höherstufige Theorie (Higher-Order-Theorie) oder eine nicht-reflexive Erklärung der inneren Erfahrung oder des Bewusstseins entwi-ckeln (Same-Order-Theorie, 14), Letztere mache »die Perspektive der ersten Person stark« (475).
In seiner Synopsis fasst R. seine Erkenntnisse zusammen (467–476): Thomas, aber auch Siger kennen »den Primat der Erkenntnis der Außendinge vor der Selbsterkenntnis«, wobei Thomas die individuellen menschlichen Erkenntnisakte, Siger die Erfahrung des Allgemeinen betonen. Bei Olivi spielt »die Einheit der Seele und des Bewusstseins eine bedeutende Rolle«. Er rückt den Begriff der inneren Erfahrung in den Fokus der theoretischen Aufmerksamkeit (89). R. sieht Ockham eher rückwärtsgewandt und bemerkt, dass er »keinen emphatischen Begriff einer Bewusstseinseinheit wie noch seine franziskanischen Ordensbrüder um 1300« hat; auch »das Ich bleibt beim späten Ockham ontologisch unterbestimmt«, im Mittelpunkt stehe nicht die innere Erfahrung, sondern der intellektive Akt (230). Bei d’Ailly meint R., er gehe »von einer Unterscheidung zwischen einer absoluten Evidenz, die immun gegen göttliche Täuschung ist, und einer bedingten Evidenz aus, die nur vorliegt, falls mich Gott gerade nicht täuscht«. Noch weiter geht Lokert, der behauptet, dass »Gott uns sogar in unserer Selbsterkenntnis zu täuschen vermag«. Von solchen Extrempositionen distanziert sich Suarez. Erkennen ist für ihn wie sinnliches Wahrnehmen »un­trennbar mit einem Subjekt verbunden«. Gott täuscht nicht, denn das widerspräche seiner Gutheit. Descartes folgt Suarez und verbindet Denken und denkendes Subjekt und betont die Einheit von Bewusstsein und bewussten Akten. Bei ihm finde eine Entwicklung einen Abschluss, die bei franziskanischen Denkern um 1300 begann; die Genese der Neuzeit beginne bei Olivi und Aureoli »mit einer Theorie der Bewusstseinseinheit, die jenseits der aristotelischen Seelenvermögen angesiedelt ist«. Seine Cogito-Lehre sei kein einfacher Rückgriff auf Augustin. Obwohl R. bei den vorgestellten Autoren sorgsam untersucht, ob sie einer »Higher-Theorie« oder einer »Same-Theorie« folgen, stellt er fest, beide Theorien des Be­wusstseins oder der inneren Erfahrung schlössen sich gegenseitig nicht aus, ja sie lassen sich (wie bei Olivi) miteinander verbinden. Die »Same-Theorie« mache die Perspektive der ersten Person stark. Mit diesem Satz schließt R: »Innere Erfahrung steht bis heute im Zentrum vieler philosophischer Diskussionen und kann mit Recht als ein Grund- oder Schlüsselbegriff bezeichnet werden, dessen Entwicklung Aufschluss über die gesamte Geschichte der Philosophie des Spätmittelalters und der Neuzeit gibt.« Das herauszustellen, darauf zielt die ganze Arbeit.
Zu Einzelheiten: Für Thomas gilt, ist das Vorstellungsbild gebildet, tritt der intellectus agens hinzu und abstrahiert aus dem individuellen Vorstellungsbild ein intelligibles Erkenntnisbild, das nichts Individuelles mehr an sich hat. Sein erkenntnistheoretisches Modell kennt keine Intuition; bei ihm gibt es keinen »Platz für eine aktuale Selbsterkenntnis der Seele aufgrund ihres Wesens« (38.46. 49). Damit, dass er die innere Erfahrung, die geistige, die in­tellektuale Schau betont, klingt aber bereits die Intuition an (58). Die Weiterentwicklung dieser Gedanken bei Dietrich von Freiberg zur visio beatifica, zur Bestimmung des ens conceptionale als das bewusste geistige Erfassen und des intellectus agens als das Göttliche im Menschen hätte verfolgt werden sollen. Burkhard Mojsisch (1984 u. ö.), Jens Halfwassen (ThPh 1997, 337–359) und der Rezensent (KuD 1/97, 2–19) haben dazu Untersuchungen angestellt.
Was Olivi unter innerer Erfahrung versteht, entspringt der Be­wegung des Willens, das Bewusstsein aus der Willensfreiheit (128). Für Vital du Four ist der Intellekt »das höchste, die Sinne das niedrigste menschliche Erkenntnisvermögen« (140). Im Werk des Duns Scotus sieht R. eine Verbindung von Aristotelischem und Augustinischem, seine Lehre von der inneren Erfahrung sei nicht einheitlich (162.186). Eine Lehre vom »Ich«, so wird behauptet, habe schon Aureoli entwickelt (189), dasselbe gilt aber auch von Meister Eckhart! Für Aureoli ist das Ich »das Prinzip aller Tätigkeiten meiner verschiedenen Seelenvermögen« (213). Ockham erkennt, wie seine Vorgänger, doch kritischer, »die innere Erfahrung als privilegierte[n] Zugang zum eigenen Inneren« (223). Bei Adam von Wodeham wird die sinnliche Wahrnehmung von Außendingen mit der intui tiven Erkenntnis identifiziert (262). Gregor von Rimini nimmt eine intuitive, unmittelbare Erkenntnis von Nicht-Sinnlichem an (279f.). D’Ailly bettet, typisch nominalistisch, die erkenntnistheoretische Fragestellung in die Problematik der göttlichen Allmacht. Er schränkt sie ein, wenn er sagt, dass Gott »ohne unsere Mitwirkung keine Erkenntnis« in uns schaffen kann (303). Bei Suarez stellt R. fest: Er fasst »die Verbindung der Selbsterfahrung mit ihrem intrinsischem Prinzip, der Seele, als besonders innig auf, lehnt einen täuschenden Gott ab und präsentiert eine Same-Order-Theorie der inneren Erfahrung«. Er bereite damit die Cogito-Lehre von Descartes vor. Ihr gilt R.s Aufmerksamkeit besonders, auf sie zielt die ganze Arbeit. Descartes, den er in Affinität zum Skotismus sieht, »konzipiert das Cogito als Gegenstand der inneren Erfahrung; was in innerer Erfahrung ist, ist uns bewusst« (402). Auch er vertritt eine Same-Order-Theorie des Bewusstseins und folgert, dass alle mentalen Akte bewusst sind. »Bewusstsein des Denkens, Denken und Geist sind real identisch« (425.449).
Zweifellos legt R. ein hochgelehrtes Buch vor. Sein Wissen über die von ihm behandelten Denker ist erstaunlich. Und doch vermisst der Rezensent Seitenblicke auf andere Autoren, die sich mit dem gleichen Problem der inneren Erfahrung und der Subjektivität befasst haben. Dass er sich auf die franziskanische Linie dieses Denkens beschränkt, hätte er nicht nur nebenbei am Schluss zum Ausdruck bringen sollen.