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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

951–954

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stahlberg, Thomas

Titel/Untertitel:

Seelsorge im Übergang zur "modernen Welt". Heinrich Adolf Köstlin und Otto Baumgarten im Kontext der Praktischen Theologie um 1900.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 347 S. gr.8 = Arbeiten zur Pastoraltheologie, 32. ISBN 3-525-62352-6.

Rezensent:

Hasko v. Bassi

Seit etwa dreißig Jahren bemühen sich Praktische Theologen verstärkt um eine historische Rekonstruktion der wissenschaftlichen Konzepte ihrer Disziplin. Wichtige Impulse sind dabei u.a. von den Analysen ausgegangen, die Wolfgang Steck in den 70er Jahren vorgelegt hat, und von den Arbeiten Friedrich Wintzers, der vor allem mit seinem Reader zur Geschichte der Seelsorgetheorie (1978) die Grundlage für weitere Detailstudien gelegt hat. Eine solche ist hier nun anzuzeigen. Sie erscheint mit gutem Grund in einer pastoraltheologischen Monographienreihe, die von Wintzer mitherausgegeben wird. Es handelt sich um eine Hamburger Dissertation aus dem Wintersemester 1995/96, die von Wulf-Volker Lindner, dem Lehranalytiker und Poimeniker, betreut wurde.

Zweierlei ist vorauszuschicken. Erstens: St.s Arbeit ist gelehrt, in vieler Hinsicht innovativ, und der Rez. hat sie mit Gewinn gelesen. Zweitens: Der Autor macht es seinen Lesern nicht ganz leicht. Zum einen Teil hängt das mit dem Gegenstand zusammen, zum anderen aber auch mit der Art der Präsentation. Die eher essayistisch anmutenden Kapitelüberschriften lassen den Gedankengang der Untersuchung nicht wirklich erkennen. Man muß sich durch die Studie einmal durchgearbeitet haben, um zu verstehen, was sich hinter den einzelnen Abschnitten jeweils verbirgt. (Das kann natürlich auch ein pädagogisches Ziel sein.) Schon eine Einleitung, auf die der Verf. verzichtet hat (die einführenden Bemerkungen zu Hardelands "Geschichte der speciellen Seelsorge" sind interessant, aber hierfür kein Ersatz), wäre hilfreich gewesen.

In einem ersten großen Abschnitt "Seelsorge unter den Bedingungen von Modernität" - einer Art "tour d’horizon" - versucht St., poimenische Theorie und Praxis in ein Gesamtbild der Zeit um die Jahrhundertwende einzuzeichnen. "Beschleunigung" aller Lebenszusammenhänge - dieses Signum der Moderne destilliert er überzeugend aus zeitgenössischen Quellen heraus. In den Worten des Vf.s: "Die nunmehr dominante Erfahrung von Innovation und Diskontinuität mit ihrer schleichenden Auflösung traditionaler Lebensformen, die fast ubiquitäre Beschleunigung des alltäglichen Lebens sowie der optimistische, fortschrittsorientierte Ausgriff auf die Zukunft verwandelten die Gegenwart zu einem Fluchtpunkt bloßer Mobilität, zu einer Manifestation reiner, dynamischer Potentialität." (14)

Inhalt und Konsequenz der modernen Beschleunigungsprozesse sind Individualisierung und Rationalisierung, die beide nun auch in Fragen der Religion zum Tragen kommen. Zunehmende Vergleichgültigung religiöser Optionen, ansteigende religiöse Indifferenz und erste Kirchenaustrittswellen in den Jahren 1906 bis 1914 sind Herausforderungen für die evangelische Theologie, die nun die geschichtliche Relativität alles Seienden zum Ausgangspunkt ihrer intellektuellen Bemühungen zu machen hat. Die Dogmatik wird so, einem Diktum Troeltschs zufolge, zu einem "Stück der praktischen Theologie", die ihrerseits, u.a. durch die beginnende Herausbildung einer modernen Religionssoziologie, eine empirische Wende vollzieht. Kirchliche und kirchengemeindliche Strukturen verlieren im Modernisierungsprozeß an Plausibilität. Während seine sozialromantischen Reformvorschläge sich nicht durchsetzen konnten, zeigte das ekklesiologische Konzept Emil Sulzes immerhin die strukturellen Defizite des deutschen Kirchenwesens präzise auf.

Auch die Rolle des Pfarrers wird nun unsicher. Seine Autorität ist nicht länger amtsgestützt, sondern muß durch personale Kompetenz erworben werden. Dies ist nun um so schwieriger, als der Pfarrer sich mit grundstürzenden Veränderungen der Lebenswelt in Stadt und Land konfrontiert sieht. Die Lage der großstädtischen wie der Landarbeiterschaft wird deshalb ebenso zum Gegenstand praktisch-theologischer Reflexionsbemühungen (ESK, Landarbeiter-Enquete von Göhre und Weber) wie die Veränderungen der bürgerlichen Kultur mit ihrem gesteigerten Persönlichkeitsideal (F. Niebergall, Person und Persönlichkeit, 1911).

In dieser Zeit massivster gesellschaftlicher Umwälzungen steht die Praktische Theologie als Anwalt der Gegenwarts- und Praxisbezogenheit der Theologie insgesamt naturgemäß vor besonderen Herausforderungen. Überkommene Ansätze eines eher historischen oder systematischen Betriebs der Disziplin werden obsolet. Sie hat sich in Aufnahme älterer pastoraltheologischer Ansätze konsequent empirisch-induktiv zu konstituieren. Neben einer sich allmählich entwickelnden Religionspsychologie wird vor allem die "Religiöse Volkskunde" (Paul Drews) eines der neuen Leitfächer.

Nachdem St. die praktisch-theologische Studienreformdebatte um die Jahrhundertwende sehr erhellend auf den historischen Kontext bezieht, bedauert man, daß er die zunehmende Durchsetzung des zweiphasigen Ausbildungskonzeptes durch die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt gegründeten Predigerseminare nur streift (117). Er hätte dazu gewiß Interessantes sagen können.

Revitalisierte pastoraltheologische Traditionen und die Tatsache, daß die Seelsorge, anders als etwa Predigt und Lehre, innerhalb des pastoralen Aufgabenspektrums am wenigsten durch das Amt definiert und so als der individuellste Ausdruck pastoraler Persönlichkeit empfunden wird, führen dazu, daß den poimenischen Fragen, wie St. plausibel nachweist, eine Schlüsselrolle im praktisch-theologischen Diskurs der Jahrhundertwende zufällt.

Exemplarisch verdeutlicht St. den Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen religiöser Praxis und die Veränderungen praktisch-theologischer Theoriebildung an der Entwicklung zweier führender Fachzeitschriften, der theologisch konservativen, aber modernitätsoffenen "Monatsschrift für Pastoraltheologie" sowie der modern-theologischen, ,liberalen’ "Monatsschrift für die kirchliche Praxis" (ab 1907: "Evangelische Freiheit"). Deren Herausgeber, Heinrich Adolf Köstlin auf der einen und Otto Baumgarten auf der anderen Seite, stehen dann auch im Mittelpunkt der weiteren Untersuchungen St.s.

Es entspricht der gegenwärtigen Forschungslage, daß St. für Köstlin eine weitgehende Vernachlässigung konstatieren muß (selbst EKL 5 erwähnt ihn nicht; RGG, 4.A., sieht allerdings einen Artikel vor), während Baumgarten im Zuge einer wissenschaftlichen Renaissance des sog. "Kulturprotestantismus" in den letzten etwa fünfzehn Jahren zunehmend Interesse gefunden hat, Person und Werk also ungleich besser erschlossen sind.

Köstlin ist zwölf Jahre älter als Baumgarten und gehört damit deutlich einer anderen Generation an. Er hat 1870 als Feldprediger am deutsch-französischen Krieg teilgenommen, an den Baumgarten nur Kindheitserinnerungen hat. Köstlin wird 1846 geboren. Mütterlicherseits ererbt er eine hohe Musikalität, die in späteren Jahren in seinen kirchenmusikalischen Aktivitäten ihren produktiven Ausdruck finden kann. Nach dem Studium in Tübingen und verschiedenen pfarramtlichen Aufgaben wird Köstlin 1883 als Lehrer ans Predigerseminar in Friedberg berufen und 1895 dann als Professor für Praktische Theologie nach Gießen. Neben liturgischen und kirchenmusikalischen Schriften publiziert Köstlin 1895 sein poimenisches Hauptwerk "Die Lehre von der Seelsorge", das in seinem Todesjahr 1907 dann noch in zweiter Auflage erscheint.

Von der Poimenik her konzipiert Köstlin hier eine umfassende wissenschaftliche Praktische Theologie, materialiter tut er dies im Interesse der Gegenwarts- und Praxisrelevanz seiner Ausführungen in enger Anlehnung an die Pastoraltheologie. Zu Recht konstatiert St. insofern eine "Doppelgesichtigkeit" des Köstlinschen Entwurfs. Diese Ambivalenz prägt freilich die allermeisten praktisch-theologischen Werke um die Jahrhundertwende. Köstlin definiert: "Seelsorge ist Zudienung des Heilswortes an den Einzelnen." (Überzeugend zeigt St. in diesem Zusammenhang, daß die Nähe zu späteren dialektisch-theologischen Seelsorge-Konzepten nur eine scheinbare ist.) Wort Gottes meint bei Köstlin dabei ausdrücklich nicht allein das gesprochene Wort, sondern ebenso das gesungene oder bildlich-künstlerisch dargestellte (174). Subjekt der Seelsorge ist jeder Christenmensch - und dies zunächst auch jeder sich selbst gegenüber. Von da abgeleitet ist es dann die Gemeinde, die in ihren Personen und dem als "Ideal-Person" gedachten Amt (175) seelsorgerlich wirkt. Kritisch konstatiert St. hier eine einseitige Auflösung der Spannung zwischen Theologie und Empirie zugunsten ersterer. Dies gilt auch für die Charakterisierung des Wortes Gottes durch seine "Evidenz", bei der der rezeptive Part empirisch-anthropologisch nicht wirklich reflektiert wird. Wegweisend ist aber auch für den Autor Köstlins Ansatz einer nicht-autoritären, empathischen Seelsorge: "Der Seelsorger ist nicht der Richter. Um einem Menschen helfen zu können, muß man ihn verstehen; um ihn zu verstehen, muß man Zeit für ihn haben, Zeit und viel Geduld." (Köstlin, zitiert 205)

Spürbar mehr als Köstlin kann St. seinem zweiten Protagonisten, Otto Baumgarten, abgewinnen. Geboren 1858, war Baumgarten nach kirchlichem Dienst in Baden, Promotion in Halle (1888) und Habilitation in Berlin (1890) Extraordinarius für Praktische Theologie in Jena (1890-1894), bevor er zum Sommersemester 1894 als Ordinarius an die Kieler Fakultät berufen wurde, an der er bis zu seiner Emeritierung im Wintersemester 1925/26 als einer ihrer profiliertesten Lehrer wirkte. 1931, und damit, theologiegeschichtlich betrachtet, zu spät, erschien Baumgartens "Protestantische Seelsorge". Er starb 1934.

Sehr anregend ist es, daß St. versucht, Baumgartens theologisches Denken und seine praktisch-theologischen Konzepte nun nicht von einer späten Schrift, sondern von seinem allerersten publizierten Text her zu interpretieren: "Herders Bruch mit Goethe" (1887 in der ChW). Im Konflikt zwischen "klassisch-ästhetischer" und "christlich-moralistischer" Weltanschauung sieht Baumgarten das größere Recht auf Herders Seite, dies nicht zuletzt deshalb, weil Herder sich - anders als Goethe - entschieden auf die "Wirklichkeit" in all ihrer Unvollkommenheit eingelassen habe. "Wirklichkeit" ist nun in der Tat der Schlüsselbegriff für Baumgartens Praktische Theologie. Baumgarten beruft sich in diesem Zusammenhang nachweisbar seit 1894 (St. korrigiert den Rez. hier vollkommen zu recht) immer wieder auf Luthers Diktum von der "voluntas Dei, quam in ipso facto videmus".

Antwort auf die Herausforderungen der Wirklichkeit zu geben, dazu ist nach Baumgartens Überzeugung die "moderne Theologie" mit ihrem empirisch-induktiven und historisch relativierenden Ansatz besonders prädestiniert. Daß sie sich damit der Kritik von konfessionell-konservativer Seite ausgesetzt sehen mußte, ist von vornherein nicht überraschend. St. weist aber darauf hin, daß Baumgarten und seine theologischen Mitstreiter auch von "linker" Seite attackiert wurden unter Hinweis auf ihre vermeintlich überholte, ja mittelalterliche Anthropologie mit der Vorstellung eines Sünden- und Gnadenbewußtseins. Vor dem Hintergrund eines solchen Menschenbildes ist aber verständlich, daß Baumgarten ebenso wie Köstlin die Praktische Theologie insgesamt von der Poimenik her gestaltet sehen wollte. In Aufnahme human- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse (Religionspsychologie, Sozioökonomie) entfaltet Baumgarten sein Programm einer nicht-dirigistischen, begleitenden Seelsorge bei voller Anerkennung, ja Würdigung der volkskirchlichen Realitäten.

In seinem "Epilog" läßt St. die vorgestellten poimenischen Konzepte noch einmal vor dem Hintergrund der von ihm skizzierten intellektuellen Landschaft der Jahrhundertwende Revue passieren. Angesichts der Forschungsinteressen der letzten Jahre ergeben sich leicht perspektivische Verzerrungen. Um so wichtiger ist es, daß St. darauf hinweist, daß für "weite Teile der Kirche - ebenso wie der Praktischen Theologie - jener Jahre eher die Perspektive H. A. Köstlins als die O. Baumgartens repräsentativ gewesen" sei und daß so "der Köstlinsche Entwurf zur Seelsorgelehre faktisch weitaus größere Integrationskraft (besaß) als Baumgartens modern-theologisches Emanzipationsprogramm" (290). Beiden Entwürfen aber kommt große Bedeutung zu bei den gegenwärtigen Bemühungen um ein wissenschaftliches Paradigma, das jenseits der Pastoralpsychologie Gegenwarts- und Praxisbezug der Praktischen Theologie sichert. Hierauf aufmerksam gemacht zu haben, ist nicht das geringste Verdienst dieser insgesamt hervorragenden Arbeit.

St. hat einen großen Teil des uvres seiner "Helden" gründlich ausgewertet. Beeindruckend ist daneben die Fülle an zeitgenössischer Literatur, die er erschlossen hat. Leider gibt es nur ein Gesamt-Literaturverzeichnis. Für die Weiterarbeit wäre es hilfreich gewesen, hätte der Autor zwei Verzeichnisse, getrennt nach zeitgenössischen Quellen und Sekundärliteratur, angelegt.

Bei der Sekundärliteratur vermißt man nur wenig. Nachzutragen wären allenfalls: Wilhelm Gräb, Kirche als Ort der Freiheit, in: Dirk Bockermann u. a. [Hrsg.], Freiheit gestalten. FS für Günter Brakelmann zum 65. Geburtstag, Göttingen 1996, 223-236; Christoph Schwöbel, Gottes Stimme und die Demokratie, in: Richard Ziegert [Hrsg.], Die Kirchen und die Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1994, 37-68; außerdem der Artikel über Köstlin von Karl Dienst (BBKL 4, 1992, 292-293), der zwar im Text zitiert wird, aber im Literaturverzeichnis fehlt, vgl. auch RGG3 3, 1959, 1718. - Die Tübinger Habilitationsschrift von Christian Albrecht konnte dem Autor noch nicht bekannt sein. Gleichwohl soll sie bei dieser Gelegenheit genannt werden: Protestantismustheoretische Begründungen der Praktischen Theologie. Klassische Reflexionsmuster der religiösen Kulturpraxis des Christentums und deren Aufnahme in der Praktischen Theologie, 1998.

Corrigenda: S. 5, Zeile 13: Statt "Wolffes" lies: "Wolfes". - Im Inhaltsverzeichnis, S. 7, und in der Kapitelüberschrift, S. 146, nennt St. irrtümlich 1847 als Geburtsjahr Köstlins, im Text dann aber richtig 1846. - S. 209/210 erklärt Stahlberg, daß Baumgartens Aussage, seine Dissertation sei unveröffentlicht geblieben, auf einem Erinnerungsfehler beruhe. Das ist so wohl auch nicht zutreffend. Es geht ganz einfach um ein sprachliches Problem. Die Arbeit wurde in der Tat gesetzt und (offenbar in größerer Stückzahl) gedruckt, und diese Fassung war es, die der Hallenser Fakultät zur Begutachtung vorgelegt wurde. Es gab aber keinen Verleger für das Buch, und in diesem Sinne blieb die Arbeit "unveröffentlicht". - S. 307, Zeile 7 von unten: Statt "Bibliographisches" lies: "Biographisches".