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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

647-649

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Senkel, Christian

Titel/Untertitel:

Patriotismus und Protestantismus. Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XI, 310 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 172. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-152714-2.

Rezensent:

Christian Nottmeier

Das Verhältnis von Religion und Nation ist nicht nur für die Ge­schichtswissenschaft und die Theologiegeschichte, sondern auch für eine historisch interessierte systematische Theologie eine spannungsreiche Herausforderung. Christian Senkel geht in seiner Hallenser Habilitationsschrift der Bedeutung religiös-konfessioneller Semantik in den Diskussionen um Patriotismus und Nation in der Zeit von 1749 bis 1813 nach. Er spannt einen weiten historischen Bogen, fällt in diesen Zeitraum doch mit der Revolution von 1789 die Geburt eines spezifisch modernen Nationalismus – hier als wertfreier Terminus gebraucht –, in dem sich die Formierung der Nation gegen innere wie äußere Feinde mit der emanzipativen Forderung nach einer konstitutionell-freiheitlichen Repräsentation der Gesamtnation verbindet.
Der deutsche Fall ist gegenüber Frankreich komplexer. Der französische Nationalismus findet einen staatlichen Bezugspunkt des Nationalbewusstseins bereits vor, der nun freiheitlich ausgestaltet wird. Demgegenüber liegt die »deutsche Frage« darin, dass zunächst unklar war, auf welche staatliche Einheit sich das Nationale überhaupt beziehen sollte. Das wird an den von S. untersuchten Autoren deutlich. Die Vaterlandsliebe eines Thomas Abbt be­zog sich auf das aufgeklärt-absolutistische Preußen, Justus Mö­ser konnte von Osnabrück als seiner »Nation« sprechen, Friedrich Carl Moser dagegen sah im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation den entscheidenden Referenzrahmen. Klopstock und auf andere Weise Herder imaginierten eine elitäre deutsche Gelehrtenrepublik bzw. einen historisch vertieften Kulturpatriotismus. Erst bei Arndt zeigen sich die Wirkungen der Revolution. Er will die konsequente Mobili-sierung der Gesamtnation, die er auf eine einheitliche Sprach- und Kulturgemeinschaft bezieht, im Volkskrieg gegen Frankreich vorantreiben und verbindet dies mit radikalen politischen Forderungen. Anders als in Frankreich, dessen Revolutionäre zwar ebenfalls die Nation sakralisierten, insgesamt aber radikal antiklerikal gesinnt waren, boten sich in Deutschland zudem vielfältige Möglichkeiten, die Konstruktion nationaler Identität in bewusster Anknüpfung an vorgefundene religiöse Se­mantik vorzunehmen.
Zunächst bietet S. unter »Protestantismus, Literatur und ›nation building‹« (1–17) forschungsgeschichtliche Bemerkungen und steckt den Rahmen seiner Untersuchung ab. Zu Recht wendet er sich gegen theologiepolitisch einseitige Zuschreibungen, die das Thema »Religion und Nation« entweder als »dogmatisch unzulässige[n] Tradtionsabbruch eines häretisch modernisierten Chris­tentums oder aber eine in der Moderne unvermeidliche politisch-ethische Selbstauslegung« (3) behandeln. Aus der modernen Ge­schichtswissenschaft interessiert er sich besonders für die konstruktivistische Theorie des »nation building«. Genau deshalb sind für ihn – im Anschluss an Friedrich Wilhelm Graf – die Wechselspiele von nationalem Diskurs und konfessioneller Semantik interessant. Deutlich positioniert er sich gegen einfache Narrative einer »Säkularisierung der Religion und einer Sakralisierung der Nation« (10) und betont »eine ebenso koproduktive wie in verschiedene Richtungen weisende Zirkulation konfessioneller Se­mantik […], die sich den Allgemeinbegriffen Nation und Religion entzieht« (11).
S. sichtet sein Material in drei Durchgängen. Zuächst wendet er sich »Patriotische[r] Institutionalität und konfessionelle[r] Topik« (18–88) zu. Referenzautoren sind die sehr unterschiedlich gelagerten Debattenbeiträge von Abbt, Moser, Möser, Klopstock und Herder. Gerade Abbts »Vom Tode für das Vaterland« von 1761 war ein Initiator des patriotischen Diskurses. Allerdings war es – anders als S. darstellt –, gar nicht so überraschend, dass Abbt als Vaterland nicht die deutsche, sondern die preußische Nation bezeichnete. Denn gerade das friderizianische Preußen war eine Projektionsfläche aufgeklärter Staatsvorstellungen. So verband Abbt mit seinem voluntaristischen Konzept von Patriotismus den Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsgarantien.
Eindringlich zeichnet S. unter der Überschrift »Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator« (89–168) die Luther gewidmete Erinnerungskultur nach, die den Reformator als Integrationsfigur einer zuallererst kulturell, noch nicht staatlich verfassten, deutschen Nation interpetierte. Besonders empfehlenswert sind hier die Ausführungen zu Dekonstruktion des nationalen Lutherbildes in Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas« (154–168), die Arndts entsprechende Bemühungen konterkarieren.
Schließlich behandelt S. die Literatur als Medium des patrio-tischen und nationalistischen Diskurses (173–262). Neben der Analyse von Kriegslyrik und Journalistik bietet er überzeugende Analysen der Hermannsdramen bei Klopstock, Möser und wiederum Kleist. Instruktiv ist hier der Vergleich zwischen den patriotischen Diskursen vor der napoleonischen Besatzung und den nationalis-tischen Entwürfen der Zeit nach 1806, der S. zu dem zutreffenden Fazit führt: »Die Unterscheidung zwischen der kosmopolitisch-emanzipativen Ideologie eines Patriotismus, der das Vaterland für wählbar hält, und der späteren integrativen Ideologie des Nationalismus, der die Nation für objektiv vorgegeben hält, kann man nur dann beibehalten, sofern man auf die Zuschreibung eines teleologischen Sinns verzichtet« (261). Gleichwohl markiert die Revolu-tion von 1789 eine Wegscheide, die deutlicher hätte markiert werden können. Die Nation ist hier zuallererst ein Willensakt der Subjekte, während die kulturelle Ethnisierung des Feindbildes – wie Michael Jeismann gezeigt hat – erst im Zuge der Revolutionskriege einsetzt. Die kulturell-objektive Semantik ist dagegen etwa bei Arndt deutlich stärker ausgeprägt als in Frankreich.
S. bündelt seine Ergebnisse in einem prägnanten Schlusskapitel (263–280). Hervorgehoben sei der Hinweis auf das »Heilige als eine Lieblingsvokabel« der patriotischen Diskurse: »Es sistiert die im Säkularisierungsbegriff gedachte und vom Religionsbegriff ge­stützte Entleerung der Konfessionalität, indem es einen Inbegriff neuer politischer Erfahrung der Loyalität, der Geselligkeit und der Freiheit gibt« (265), deren Funktion sich aber nur von ihrem bib­lisch-christlichen Hintergrund her plausibilisieren lässt. Ist da­mit die Bilanz der Untersuchung für die Geschichts- und Sozialwissenschaften gezogen, so lautet der theologische Befund: »Es gibt angesichts des Patriotismus keine ungebrochene Freiheitsgeschich­te des Protestantismus zu erzählen, es gibt nur widerspruchsvolle evangelische Selbstverortungen in einer widerspruchsvollen Welt. Umgekehrt erzählt die Genealogie der Moderne aber auch keine ausschließliche Katastrophengeschichte, tragen patriotische Entwürfe evangelischer Literaten doch auch ekklesiogene Kritik an nationalen Institutionen, an patriotischem Enthusiasmus und am Krieg als Instrument der Nationsbildung in den nationalen Diskurs hinein« (278 f.).
Mit Blick auf Arndt mag man bezüglich letzterer Aussage ein Fragenzeichen setzen, insgesamt hat S. aber einen auch interdisziplinär wichtigen Beitrag zum Verhältnis von Konfession und Religion geleistet. Man wünscht ihm – trotz manchem Widerspruch in Einzelfragen – nicht nur geduldige Leser in der Theologie, sondern auch den Sozial- und Geschichtswissenschaften.