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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

645-647

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Holzem, Andreas

Titel/Untertitel:

Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung. 2 Teilbde.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. Bd. 1: XIV, 665 S. Bd. 2: IX, S. 668–1485. Geb. EUR 168,00. ISBN 978-3-506-77980-9.

Rezensent:

Konrad Hammann

Der Kötter Schlüter aus dem westfälischen Oelde wurde 1755 von dem zuständigen kirchlichen Gericht dafür bestraft, dass er in einer familiären Notsituation einen Wahrsager um Hilfe ersucht hatte. Dadurch hatte er sich – unbeschadet zweier auf den Rat des Sehers hin unternommener Marienwallfahrten – des unchristlichen Aberglaubens schuldig gemacht. Der Tübinger Kirchenhistoriker Andreas Holzem nimmt das Geschick jenes Kötters als Fallbeispiel der mit der Konfessionalisierung des Christentums seit dem 16. Jh. einhergehenden komplexen Probleme. In seiner großangelegten Darstellung der Geschichte des Christentums in Deutschland zwischen 1550 und 1850 rekonstruiert er nicht nur die mit dem Leitbegriff »Konfessionalisierung« angezeigten Prozesse der Umformung des Christentums von seiner mittelalterlichen Erscheinungsform in seine neuzeitlichen Gestalten, sondern er geht auch dem nach, was er in Kapitel 1 als »soziale Wirkungsgeschichte des [religiösen] Wissens zwischen Normierung und nicht normierbarer Aneignung« bezeichnet (31).
Die Entfaltung dieses Programms füllt zwei stattliche Bände, die eine fortlaufende Kapitel- und Seitenzählung aufweisen. Die einzelnen Kapitel sind gleichmäßig aufgebaut; eine oder mehrere Episoden führen in das jeweilige Thema ein, das Thema wird historiographisch aufgearbeitet und schließlich in seinem Verhältnis zur Konfessionalisierung reflektiert. Das Konfessionalisierungsparadigma erweist seine Stärke vor allem dort, wo es in der Forschung zuerst Anwendung gefunden hatte, in der religions- und verfassungspolitischen Neuordnung konfessionell bestimmter Territorien und der Ausbildung der drei Konfessionskirchen (Kapitel 2). H. konzediert zwar »einen zeitlichen Vorsprung« der evangelischen vor der katholischen religionspolitischen Neuordnung, will darin aber keine qualitative Differenz im Hinblick auf das Modernisierungspotential der Konfessionen sehen (141).
Die wechselseitige Durchdringung von Politik und Bekenntnis bestimmt auch die kirchenreformerischen Anstrengungen aller Konfessionen (Kapitel 3). H. widmet der katholischen Reform rein quantitativ erheblich mehr Aufmerksamkeit als den lutherischen und reformierten Bekenntnisbildungen; entgegen der im Titel angegebenen Beschränkung auf die Gegebenheiten in Deutschland behandelt er neben dem Tridentinum ausgiebig die katholische Reformspiritualität (Ignatius von Loyola, Teresa von Avila u. a.), also nicht nur deren Wirkung auf die deutschen Verhältnisse. Umgekehrt weiß er nur wenig von der evangelischen Universitätstheologie der Zeit zu berichten; hier wie überhaupt in seinem Werk dürfte er die Langzeitwirkungen, die die Reformation als Voraussetzung der Konfessionalisierung gerade in ihrem Umbruchcharakter auf dem Gebiet der Bildung hatte, nicht hinreichend abgebildet haben.
Im vierten Kapitel zeichnet H. ein facettenreiches Panorama der Konfessionsgesellschaften und der Verchristlichung der neuzeitlichen Lebenswelten. Die Konfessionalisierung erfasste binnen Kurzem den Klerus bzw. die Pfarrerschaft, eine vergleichbare homogene Ausrichtung der Gläubigen erreichte sie kaum. In dem mit 241 Seiten umfangreichsten Kapitel des ganzen Buches beschreibt der Schüler A. Angenendts ebenso anschaulich wie reflektiert, wie kirchliche und weltliche Obrigkeiten Kirchengebäude, Bilder und Musik bekenntnisgemäß gestalteten, Gottesdienst und Predigt, Katechese und Unterricht den konfessionellen Erfordernissen anpassten und die gesamte Gesellschaft mittels Bußzwang und Kirchenzucht zu verchristlichen suchten. Indes war die lutherische Kirchenzucht nie bloß Mittel der »Sozialdisziplinierung« (G. Oestreich) und übte die reformierte Disziplinierung nicht einfach eine »Tyrannei der Tugend« (V. Reinhardt) aus; in beiden Fällen blieben die religiösen Motive maßgebend (500–510). Auch schloss die obrigkeitliche Disziplinierung die Selbstkonfessionalisierung von Laien – durch die verstärkte Aneignung religiöser Erbauungsliteratur und die fromme Gestaltung des Alltages – keineswegs aus.
Freilich stieß die Verchristlichung der Gesellschaft an Grenzen, nicht nur auf dem heiklen Terrain der Ehe und ihrer Anbahnung. Der katholische Religionshistoriker führt die Vielschichtigkeit der frühneuzeitlichen Religionskulturen auch darauf zurück, dass das von ihm postulierte vormoderne religiöse Wissen nicht zuletzt gegenüber dem Konfessionalisierungsdruck ein enormes Beharrungsvermögen aufgewiesen habe. Als regelrechte Krisen der Konfessionalisierung begreift H. den Dreißigjährigen Krieg sowie die Hexenverfolgung (Kapitel 5). Diese durchaus zu unterscheidenden Krisenphänomene weisen sowohl Bezüge zu konfessionellen Motiven als auch von der Konfessionalisierung unabhängige Charakteristika auf, was H. am Verhältnis zwischen Konfessionalisierung und Gewalt verdeutlicht.
Der Pietismus erfährt in Kapitel 6 anhand seiner Hauptvertreter und der durch diese repräsentierten Modelle sowie einiger charakteristischer Lebensformen eine vergleichsweise knappe Behandlung. Die wichtigste Frömmigkeitsbewegung in der evangelischen Christenheit seit der Reformation, zu der es ein vergleichbares zeitnahes Phänomen im römischen Katholizismus nicht gab, lässt sich offenkundig nicht mehr mit dem Konfessionalisierungskonzept verrechnen. Denn Speners ecclesiola in ecclesia und Franckes Dringen auf die als Wiedergeburt verstandene Heiligung bedeuteten die Abkehr von dem konfessionalistischen Streben nach einer Verchristlichung der ganzen Gesellschaft, während die »Hoffnung besserer Zeiten« den »Inklusionismus der Konfessionalisierung« beinahe schon in das Eschaton auslagerte (1193).
Es überrascht einigermaßen, dass die katholische Aufklärung in Kapitel 7 wesentlich umfangreicher als die protestantische dargestellt wird. Deckten die doch eher auf Kirchenreform und die pastorale Praxis abzielenden Strömungen des Gallikanismus, Jansenismus, Febronianismus und Josephinismus wirklich ab, was die theologische Aufklärung im evangelischen Bereich zur Umformung des Christentums in dessen modernefähige Gestalt beizutragen hatte? Gegen den herrschenden Forschungskonsens tritt H. vehement dafür ein, das Verhältnis des Katholizismus zur Aufklärung aus dem Schatten des Protestantismus herauszuholen (775. 849 f.). Dass bereits im Licht der praktischen Umgestaltung der eigenen Konfession ein distinkter Begriff des Aufklärerischen mit heuristischem Wert aufscheinen würde, ist freilich freundlich, aber entschieden zu bestreiten.
In den Kapiteln 8–10 zeichnet H. die Geschichte des Christentums in der ersten Hälfte des 19. Jh.s nach. Die Überschriften deuten an, wie er die bekannten Probleme einer plausiblen Gliederung dieser Phase der Christentumsgeschichte zu lösen versucht: »Revolution – Säkularisation – Neuordnung«, »Aufklärung – Romantik – Ultramontanismus und Erweckung« sowie »Die Revolution von 1848 und die deutschen Kirchen«. Auf diese Periode der endgültigen Pluralisierung des Christentums lässt sich das Konfessionalisierungskonzept nurmehr allenfalls mittelbar anwenden, sei es als Reflexion über die Beziehung zwischen Konfessionalisierung und Säkularisation, sei es als Nachdenken über die religiösen und konfessionellen Komponenten der zeitgenössischen Idee der Nation oder als Frage nach der konfessionellen Fraktionierung politischer Parteien und Verbände nach 1848.
Was ist der Ertrag dieser weit ausgreifenden Studien? Im eher geschichtstheoretisch angelegten Resümee seiner universalgeschichtlichen Rekonstruktion der Geschichte des Christentums in Deutschland von 1550–1850 sucht H. das Verhältnis zwischen der Konfessionalisierung und der Moderne näher zu bestimmen. Er sieht davon ab, die Moderne wesentlich oder gar exklusiv aus der deutschen Christentumsgeschichte und deren Weg von der Konfessionalisierung zur Pluralisierung ableiten zu wollen. Er betont aber zugleich, dass sich das Christentum des 19. Jh.s und insofern dann auch die Moderne »mit den Strukturanalogien der Konfessionen der Frühen Neuzeit […] besser erklären lassen als ohne sie« (1175).
Die Darstellung H.s nötigt dem Leser höchsten Respekt ab, nicht allein wegen der Fülle des verarbeiteten Stoffes, sondern auch aufgrund der historiographischen Reflexionskultur, die sich in beiden Bänden antreffen lässt. Beeindruckend ist die Menge der herangezogenen Literatur; das Literaturverzeichnis umfasst nicht we­niger als 143 Seiten. Professionell erstellte Register erschließen etwas mehr als 1.200 Textseiten vorbildlich. Der evangelische Re­zensent ist angetan auch von der Kompetenz, mit der H. über die speziell den Protestantismus betreffenden Belange schreibt. Dass diese Christentumsgeschichte das Werk einen katholischen Autors ist, ließe sich an vielen Einzelheiten, an der vorgenommenen Periodisierung wie auch an der Gesamtanlage der Darstellung zeigen. Insofern bestätigt noch die Rekonstruktion des Weges des frühneuzeitlichen Christentums die langfristige Wirkung des Konfessionalisierungssyndroms.