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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

641-644

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Carpzov, Johann Benedikt

Titel/Untertitel:

Hodegeticum brevibus aphorismis pro collegio concionatorio conceptum. Ein Wegweiser für Prediger in Leitsätzen. Lateinisch-Deutsch. Eingel., übers. u. hrsg. v. R. Preul.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 189 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03746-9.

Rezensent:

Andres Straßberger

Die Erforschung der deutschsprachigen evangelischen Predigtkultur im Zeitalter des Konfessionalismus steht, sowohl was ihre homiletisch-theoretischen Grundlagen als auch was die predigtpraktischen Primär- und Epiphänomene betrifft, noch immer weitgehend am Anfang. Als ein Signal in Richtung einer Intensivierung der Forschung erscheint die hier anzuzeigende Edition und Übersetzung eines homiletischen Lehrbuches aus der Mitte des 17. Jh.s. Johann Benedikt Carpzovs Hodegeticum, in der lateinischen Erstausgabe (Leipzig 1652) ein Duodezbüchlein von gerade einmal 62 Seiten Umfang, bietet insofern einen besonders geeigneten Zugang zum »Denkuniversum« lutherisch-orthodoxer Predigtlehre, da es sich um einen ebenso gedrängten wie prägnanten Text seiner Gattung handelt. Mit sicherem Gespür für dessen theologie- und predigthistorische Bedeutung hat Albrecht Beutel diesem Werk bereits vor einigen Jahren einen wegweisenden Aufsatz gewidmet, in welchem er das Buch in den Rang eines homiletischen »Klassikers« erhob. Bei dieser Gelegenheit sprach er die begründete Erwartung aus, dass »(e)ine lateinisch-deutsche Neuausgabe des ›Hodegeticum‹ von 1652 für sich in Anspruch nehmen können [würde], der Erforschung der protestantischen Homile-tik- und Theologiegeschichte einen wichtigen Dienst geleistet zu haben« (A. Beutel: Aphoristische Homiletik: J. B. Carpzovs ›Hodegeticum‹, ein Klassiker der orthodoxen Predigtlehre. In: Klassiker der protestantischen Predigtlehre: Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange/hrsg. von Ch. Albrecht und M. Weeber. Tübingen 2002 [UTB für Wissenschaft; 2292], 26–47, hier: 33 in Anm. 29).
Reiner Preul, Emeritus für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel, nimmt diese Anregung erklärtermaßen auf, wobei er mit der Edition und Übersetzung, an der seine Frau Renate mitgewirkt hat, »zunächst den lateinischen Text selbst wieder allgemein zugänglich machen« (Einleitung, 9) möchte. Dass dieser Text nunmehr auch über den Karlsruher Virtuellen Katalogs (KVK) in digitalisierter Form zur Verfügung steht (und zwar in den drei wichtigsten Ausgaben: 1652, 1656 bzw. 1675), relativiert dieses Anliegen; gänzlich überflüssig macht es eine historische Edition damit allerdings keineswegs. Denn für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit orthodoxer Homiletik bleiben heutigen Ansprüchen genügende Editionen zentraler Quellentexte die entscheidende Grundlage. In diesem Horizont müssen sowohl die Edition als auch die Übersetzung vom Rezensenten betrachtet und gewürdigt werden.
In der Einleitung teilt Preul mit, dass ihn bei seiner Arbeit »aber nicht nur ein historisches, sondern auch ein praktisch-theolo-gisches Interesse« (9) geleitet habe. Da Preul nicht weiter über das Verhältnis seiner zwei faktisch miteinander konkurrierenden Er­kenntnisinteressen reflektiert, bleibt unklar, was das eigentliche Anliegen von Edition und Übersetzung darstellt. Der Rezensent kommt bei seiner Lektüre des Buchs zu dem Schluss, dass das historische Interesse des Herausgebers sich auf die bloße Bereitstellung des lateinischen Texts beschränkt, ansonsten seine praktisch-theologischen Interessen eindeutig überwiegen, und zwar nicht nur was die Edition, sondern auch was die Übersetzung betrifft. Zum historischen Verständnis orthodoxer Predigtlehre im Allgemeinen und der C.s im Besonderen trägt die Publikation daher nur wenig bei.
Die Einleitung (7–30) bietet sehr spärliche, allgemeine Informationen zur biographischen und theologiegeschichtlichen Einordnung C.s (7 f.). Lediglich am Rande sei angemerkt, dass es unhistorisch ist, C.s erstes Pfarramt ins »thüringisch[e]« (7) Meuselwitz zu verlegen; der Ort gehörte damals zum Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg (vgl. zur wahrscheinlichen Veranlassung dieses Pfarrdienstes die Überlegungen bei Chr. Fr. Möller: Denkwürdigkeiten aus der Geschichte Sächsischer Prediger. Altenburg 1820, 6). Auch die Angaben zur Editions- und Rezeptionsgeschichte des Hodegeticum sind von äußerster Kürze. Die einleitenden Ausführungen zu C.s homiletischer Konzeption (13–24) weisen den Versuch einer historischen Einordnung des Texts dann sogar dezidiert ab (23: »[…] wäre eine eigene Forschungsaufgabe und kann im Rahmen einer Einleitung schon gar nicht geleistet werden«). Stattdessen unternimmt der Herausgeber den Versuch, »wenigstens die Kontinuität zu Luther hervorzuheben« (ebd.). Die Arbeitsweise Preuls folgt hier nicht der historischen, sondern systematischen Methode. Vollends schlägt sein unausgesprochenes praktisch-theologisches Primärinteresse im Schlussteil der Einleitung durch, wo er vom »Nutzen von Carpzovs Hodegeticum für die gegenwärtige Homiletik« (24–30, Zitat 24) handelt.
Uneingeschränkte Anerkennung verdient trotz der nunmehrigen allgemeinen Erreichbarkeit des Hodegeticum in digitalisierter Form das Faktum, dass mit Preuls Edition allen Interessierten ein Arbeitstext auf bequeme und gut lesbare Weise zur Verfügung gestellt wird. Dass es sich dabei um die Erstausgabe von 1652 handelt und nicht etwa, was ja auch denkbar gewesen wäre, die Ausgabe letzter Hand, teilt der Herausgeber an etwas entlegener Stelle mit (9 in Anm. 3). Die Edition des lateinischen Texts erfolgt, von Kleinigkeiten abgesehen, überwiegend zuverlässig. Unzutreffend abgebildet und daher auch übersetzt ist die Abbreviatur des Na­mens von Pancrati us (32/33). Warum auf derselben Seite Possevinus in der Übersetzung mit Possevino wiedergegeben wurde, ist dem Rezensenten nicht einsichtig. Ferner fehlt das Epsilon zum griechischen Wort epanorthotikon (46).
Aus dem Fehlen eines historisch-kritischen Apparates bzw. Kommentares, und sei dieser auch noch so kurz, muss einmal mehr geschlossen werden, dass der Herausgeber kein weiteres Interesse an einer historischen Erschließung des Textes hat. Dabei mag es noch als vergleichsweise geringes Manko erscheinen, dass Textvarianten späterer Auflagen nicht verzeichnet sind, obgleich es dadurch doch leicht möglich gewesen wäre, die vom Editor vorgenommenen Konjekturen (Anm. 1–5 auf S. 42.66.102.126.142) abzusichern. Geradezu schmerzlich vermisst der Rezensent vor allem aber Angaben zu den im Text überaus zahlreich erwähnten Autoren, ihren Werken und Zitatnachweise. Da es sich zudem um einen homiletisch-akademischen Lehrtext des 17. Jh.s handelt, der basal in zeitgenössischer Schulrhetorik und -logik wurzelt und deshalb das dort vermittelte Wissen mit großer Selbstverständlichkeit voraussetzt (z. B. 52/53: »[…] sollte aus der Logik und Rhetorik bekannt sein und wird hier gebührlich vorausgesetzt«) – ein Wissen, das die theologische Generation von heute nicht mehr teilt –, steht der unerfahrene Leser weitgehend hilf- und verständnislos vor den auf diesen Wissensbeständen aufbauenden Überlegungen samt ihrer Fachterminologie. Preul lässt den Benutzer hier – abgesehen von seiner Übersetzung, die aber auch problematisch ist (s. u.) – letztlich auf sich alleingestellt, bietet keine Worterläuterungen, kein Glossar, keinen Verweis auf Artikel in einschlägigen Fachlexika, wie z. B. das Historische Wörterbuch der Rhetorik, nennt keine weiterführende Fachliteratur; ein Namenregister, das über die Quantität und Verteilung der Autorreferenzen im Text Auskunft geben könnte, fehlt auch.
Die genannten Defizite, die sich gemäß den Anforderungen an eine historische Edition ergeben, können angesichts des offensicht-lichen Vorrangs praktisch-theologischer Gegenwartsinteressen auch nicht von der Übersetzung aufgefangen werden. Um die enorme Herausforderung und die Schwierigkeiten sehr wohl wissend, die sich einem Übersetzer lateinischer Texte der Frühen Neuzeit ins Deutsche stellen, wäre es unbillig, an dieser Stelle einzelne Übersetzungsentscheidungen für sich zu kritisieren. Gegenstand der Beurteilung kann nur der Gesamtcharakter der Übersetzung sein. Da Preul sich bei seiner Übersetzung nicht oder nur marginal für die historischen Begrifflichkeiten bzw. die sachlichen Kontexte von C.s Hodegeticum interessiert, versucht er mit der Übersetzung einen Text zu generieren, den ein durchschnittlich theologisch bzw. homiletisch gebildeter Leser von heute versteht. Dass dies aufs Ganze gesehen nichts zum historischen Verständnis des Texts beiträgt, sondern dieses vielmehr verstellt, mögen nur ganz wenige Beispiele verdeutlichen. »Eloquentia humana« (im Gegensatz zur »Eloquentia sacra«) mit »humane Beredsamkeit« (32/33) oder »genera causarum« mit »fallbezogene Genera« (46/47) zu übersetzen, ruft beim rhetorikgeschichtlich gebildeten Leser erhebliche Irritationen hervor. Ähnliche Bedenken sind beim loci-communes-Begriff anzumelden (92/93; übersetzt mit »allgemeine Begriffe«). Ein Seitenblick auf Melanchthons Loci communes rerum theologicarum verdeutlicht, in welcher Perspektive die Begrifflichkeit eigentlich zu verstehen und damit auch zu übersetzen wäre. Im Falle von C.s Ausführungen zum Strafamt des Predigers (officium elenchticum) übersetzt Preul den Begriff entweder gar nicht (was man, sofern man ihn als Fachbegriff belassen will, tun kann), versieht ihn dabei aber mit einer enthistorisierenden Klammerbemerkung (130/131), die das zeitspezifische Verständnis ignoriert. An anderer Stelle (156/157) übersetzt er den Begriff hingegen in einer Weise, die einen unkundigen Leser auch nicht näher an C.s Verständnis der damit verbundenen Sache heranbringt (vgl. dafür hingegen, mit besonderem Blick auf das im Rahmen des Drucks theologischer Streitschriften geübten officium elenchticum, M. Gierl: Pietismus und Aufklärung: Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, 60–92). Ebenso werden zentrale predigtgeschichtliche Pointen, wie z. B. C.s homiletische Reserve gegenüber der vor allem mit Luther in Verbindung gebrachten methodus heroica (s. 70/71 in Verbindung mit 76/77) – ein Punkt, der bei Gottfried Arnold den Widerspruch gegenüber der orthodoxen Predigt begründen und damit zum Ansatzpunkt einer pietistischen Predigtreform werden wird – nicht erkannt und dementsprechend in der Übersetzung auch nicht wiedergegeben (zur Sache siehe H. Marti: Die Rhetorik des Heiligen Geistes: Gelehrsamkeit, poesis und sermo mysticus bei Gottfried Arnold. In: Pietismus-Forschungen: zu Philipp Jacob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld, hrsg. v. D. Blaufuß. Frankfurt a. M. u. a. 1986, 197–294, bes. 274–282). Wie fatal das übersetzerische Desinteresse an den historischen Bezügen des Texts wirken kann, verdeutlicht – in diesem Fall auf wenig gravierende Weise – die Übersetzung von »a Pancratio Superintendente Curiensi« (134/135). Ein schlichtes Nachschlagen des Namens hätte offenbart, dass es sich hier nicht um den Churer, sondern Hofer Superintendenten Andreas Pancratius handelt. Um es in aller Klarheit zu sagen: Nicht die philologischen Qualitäten der Übersetzer, die unbestritten sind, machen die Übersetzung problematisch, sondern deren unzureichende Sachkenntnis.
Der Rezensent bedauert daher feststellen zu müssen, dass mit dieser Edition und Übersetzung der aktuelle Stand der Erforschung orthodox-lutherischer Predigtlehre nicht erreicht, geschweige denn einen Schritt darüber hinausgeführt wird. Eine historischen Editionsprinzipien verpflichtete Neuausgabe von C.s Hodegeticum bleibt weiterhin ein Desiderat der Forschung. C.s Text zeigt aber auch in der vorliegenden Form, dass der Weg zum tieferen Verständnis lutherisch-orthodoxer Homiletik nicht an der Methodus concionandi Johann Hülsemanns (Wittenberg 1633 s. t. Oratoria ecclesiastica; 61671), dem homiletischen Hauptreferenzwerk C.s, vorbeiführt (vgl. auch die Hülsemanns homiletikgeschichtliche Bedeutung betreffenden Andeutungen in meinem Beitrag: Die »Leipziger Predigerkunst« im [Zerr-]Spiegel der aufklärerischen Kritik: Plädoyer für eine geschichtliche Betrachtung orthodoxer Homiletik. In: Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig: Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte, hrsg. v. A. Gößner unter Mitarbeit von A. Wieckowski. Leipzig 2005, 162–218, hier 204–206). Eine historischen Editionsprinzipien verpflichtete Neuausgabe des mit rund 450 Oktavseiten ausgesprochen umfangreichen, homiletisch innovativen und da­mit wohl bedeutendsten Predigtlehrbuchs der lutherischen Hochorthodoxie wäre ein ausgesprochen verdienstvolles Forschungsprojekt, z. B. im Rahmen einer Dissertation. Und möchte jemand die predigttheoretischen Grundsätze des Hodegeticum nach ihrer predigtpraktischen Bewährung untersuchen, was mangels gedruckter Predigten aus C.s Feder bislang schwierig war, so sei er nun auf ein von der Universitätsbibliothek Leipzig erst jüngst erworbenes, einzigartiges Konvolut von Nachschriften seiner Predigten verwiesen, das voraussichtlich 2016 der interessierten Öffentlichkeit in digitalisierter Form online zugänglich gemacht werden soll.