Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

639-641

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker, u. Gury Schneider-Ludorff[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Luther-Lexikon. Hrsg. unter Mitarbeit v. I. Klitzsch.

Verlag:

Regensburg: Verlag Bückle & Böhm 2014. 820 S. m. 67 Abb. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-941530-05-8.

Rezensent:

Martin Brecht

Das Buch ist ein Schwergewicht in der Hand, dem Format nach, vor allem mit seiner Konzeption und deren Durchführung. Hier wird das geglückte Ergebnis einer längeren editorischen Bemühung vorgelegt. Von 173 Mitarbeitern sind 669 Artikel zusammengetragen worden. So ist eine Vielfalt der Meinungen und Aspekte garantiert. Die Druckgestaltung liest sich gut. Lediglich ein Druckversehen ist mir aufgefallen, was etwas heißen will. Wo es sich nahelegt, sind passende Abbildungen eingerückt. Den einzelnen Artikeln sind Quellen- und Literaturangaben beigegeben, meist auf aktuellem Stand, gelegentlich haben es sich die Autoren dabei aber auch leicht gemacht. Die jeweiligen Verfasser werden mit einem Siglum angegeben, das wie die übrigen Abkürzungen durch ein eigenes Verzeichnis erschlossen ist. Das Stichwortverzeichnis wird durch ein Personenregister ergänzt, das etwa Vermisstes zumeist noch fassbar macht. Gegebenenfalls wird unter den Stichwörtern kundig verwiesen. Im Anhang finden sich auch eine Chronologie von Luthers Leben, ein Glossar und die wichtigsten Quellen und Literatur sowie die Internetlinks aufgelistet. Der Rahmen des Unternehmens ist mit all dem gut benutzbar.
Gerade Lutherforschung wird zumeist von einer jeweils spezifischen Position aus betrieben. Der Benutzer wird sich darum häufig versichern, von wem im Einzelfall die Angaben und Urteile stammen. Die beiden Herausgeber haben von ihren Positionen her das Gesamtwerk mit ihren zahlreichen Beiträgen (und Übersetzungen), möglicherweise auch durch die Aufgabenverteilung vorweg geprägt. Z. B. soll der Thesenanschlag nicht stattgefunden haben, obwohl das nach neueren Urteilen eher wieder wahrscheinlicher geworden ist. Die Herleitung von Luthers Theologie aus seinem spätmittelalterlichen Erbe tritt betont hervor. Nichtsdestoweniger ist fast die ganze Lutherforschung an dem Nachschlagewerk beteiligt. Das gilt für den deutschen wie für den evangelischen Bereich, hindert aber nicht, dass auch internationale (USA, England, Frankreich, Schweiz, Skandinavien usw.) Experten sowie solche aus der Ökumene und damit auch Katholiken herangezogen worden sind. Damit ist der Pluriformität der Lutherforschung Rechnung getragen. Den Theologen, d. h. vor allem Kirchenhistorikern und Systematikern, treten verschiedene Profanhistoriker aus dem breiten Spektrum ihrer Disziplinen zur Seite. Eine Konkurrenz von Theologie- und Profangeschichte ist somit glücklicherweise nicht auszumachen, sondern eher die Komplementarität. Auch die Philosophie und ebenso Literatur sowie Musik kommen zu ihrem Recht. Die Einbeziehung von J. S. Bach überrascht freilich. Im Einzelfall führt erwartete spezifische Kompetenz aber auch zu Einseitigkeiten oder gar zu Verzerrungen. Das schon lange sensible Problem der Einschätzung Luthers von der Schweiz her hätte eigentlich bewusst sein müssen, trägt aber in der Ausführung der Quellen- und Forschungslage nicht Rechnung. Den Artikel Päpste und Papsttum zur Zeit der Reformation hätte Luther wohl schwerlich akzeptiert.
Die erfasste Themenvielfalt ist außerordentlich breit, weitgespannt und tief. Allein unter den Lemmata Luther, Luther- werden 36 Artikel aufgeführt, darunter nicht wenige zur Wirkungsgeschichte wie Lutherdenkmäler, Lutherfilm, Lutherjubiläen, Luthermemoria, Lutherischer Weltbund (daneben auch VELKD) und Lutherrenaissance. Über die Lutherrezeption in vielen Ländern bis nach Korea und in allerlei Bewegungen bis zum Nationalsozialismus wird berichtet, wobei freilich nicht alles gleich gewichtig ist. Als recht informativ werden die Artikel über die Ausgaben von Luthers Schriften, seine Vorlesungen, Disputationen, Sermone, Postillen, Vorreden zur Bibel (warum nur die?) empfunden werden. Sogar sämtliche seiner größeren Schriften werden einzeln charakterisiert und bieten damit einen beträchtlichen Überblick. In den Artikeln selbst werden nicht selten die Quellen selbst und dies immer auch deutsch zitiert; desgleichen erfolgt immer wieder eine Erörterung über die Forschung. Eine Sparte für sich ist den Lutherforschern gewidmet, die gegebenenfalls auch recht kritisch beurteilt werden. Vermisst habe ich in dieser Riege Hans-Joachim Iwand, Leif Grane, Ernst Wolf und Helmar Junghans. Dafür hätte ich statt Adolf von Harnack eher seinen Vater Theodosius erwartet. Die großen Artikel über theologische Themen bieten insgesamt geradezu eine Theologie Luthers, sie können aber auch dazu beitragen, dass Nichttheologen sich ebenfalls über diesen schlechterdings integralen, aber nicht immer leicht zugänglichen Teil von Luthers Werk informieren können. Daneben ist auch Apartes nicht vergessen wie die Brille, Henne und Küken, natürlich das Bier, die Kleidung, der Hund (Tölpel), die Laute oder die Mume Lene. Die (unzutreffende) Mär vom Apfelbaum wird aufgeklärt. Sehr erfreulich ist, dass Rom, d. h. die Romfahrt Luthers, nach dem neuesten Stand der Forschung vorgeführt wird.
Manche Artikel fordern zum Räsonieren heraus. Denen über die Freiheit hätte man ein stärkeres Gewicht gewünscht. Bei der Kreuzestheologie hätten die schließlich auch Luther bewussten Grenzen erwähnt werden müssen. Karlstadt und Müntzer werden eher verhalten (und nicht mit der einstigen marxistischen) Schärfe vorgeführt, obwohl eine gewisse gezielte Pointierung hier und auch sonst manchmal nicht geschadet hätte. Auch bei Bucer bleiben Wünsche offen. Ist man von den allgemeinen Ausführungen über den Antijudaismus/Antisemitismus enttäuscht, wird das mit den Judenschriften voll kompensiert. Bei der Neuzeit wird wenig Lutherbezug ausgemacht. Der Antiklerikalismus kann man weiterhin einseitig finden. Bei Luthers Krankheiten ist methodisch zu fragen, was sich nachträglich noch diagnostizieren lässt. Außerdem sind nicht alle Symptome erfasst. Mit gewissem Bedauern vernimmt man, dass eine eigene Katholische Lutherforschung derzeit nicht mehr bestehe. Die große Leistung von Luthers Bibelübersetzung bleibt angesichts der Fülle der Quellen eher unterbelichtet. Mit derartigen Überlegungen ließe sich noch lange weitermachen.
Gerade die Vielfalt der angesprochenen Themen provoziert die Frage nach deren Vollständigkeit. Und da fällt einem auch ohne beabsichtigte Beckmesserei dann doch noch Weiteres ein: Herzog Georg von Sachsen war einer der Intimfeinde Luthers. Neben ihm könnte man an Herzog Heinrich von Braunschweig denken. Conrad Cordatus und Caspar Cruciger könnte man als Kollegen Luthers erwarten. J. Eberlin von Günzburg steht als Flugschriftenautor neben Luther. Johannes Brenz hat es immerhin zu einem Denkmal in der Wittenberger Schlosskirche gebracht. Stephan Roth aus Zwickau war ein wichtiger Tradent. Über Plato ließe sich ein in-teressanter Beitrag abfassen. Unter den Ländern sollte Dänemark nicht übergangen werden, wenn schon Schottland aufgeführt wird. Zu Breslau und zu Basel gab es zumindest interessante Bezüge. Auf Jüterbog hätte man hingegen verzichten können. Manche Lücke lässt sich mit Hilfe des Personenregisters abdecken.
Insgesamt hat man eine Publikation vor sich, wie man sie sich zum kommenden Lutherjubiläum nur wünschen kann, orientiert an der Person, an der Sache, an den Quellen und an der Forschung. Herausgebern, Beiträgern und dem Verlag gebührt dafür großer Dank.