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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

633-634

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, u. Armin Kohnle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen in der Reforma-tionszeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 288 S. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 25. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03790-2.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die normative Bedeutung von Glaubensüberzeugungen und ihre Applikation auf konkrete gesellschaftliche, politische und kirchliche Verhältnisse ist seit Längerem ein Thema der historischen, soziologischen, kulturgeschichtlichen und philosophischen Forschungen. Das 16. Jh. stellt einen besonders interessanten Zeitraum dar, in welchem die fraglose Normativität kirchenamtlicher Aussagen zunehmend unter Druck geriet. Welche Normen der Christenheit noch Gültigkeit beanspruchen konnten, fragte bereits 1968 Kurt Victor Selge in seiner Heidelberger Habilitationsschrift. Dass die Reformation einen gravierenden Wandel in bestehenden Ordnungsvorstel lungen, freilich auch ihrer Begründung provozierte, steht außer Zweifel. Insofern ist es ein längst überfälliges Unternehmen, das dankenswerterweise anlässlich der X. Wittenberger Frühjahrstagung umgesetzt wurde, nach den Ordnungsmodellen und -vorstellungen im Kontext der Wittenberger Reformation zu fragen. Auch wenn die Forschung an Kirchenordnungen durch die fortschreitenden Editionen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften inzwischen auf breiter Basis möglich ist, ist das in anderen Disziplinen intensiv beackerte Feld der »normativen Ordnungen« bisher wenig traktiert worden. Die 15 Beiträge greifen das Thema in unterschiedlichen Perspektiven und Räumen – ohne dass dieses Paradigma ausdrücklich thematisiert würde – auf.
Irene Dingel gibt zunächst einen Überblick zu den Bekenntnisgrundlagen der Entfaltungen konfessioneller Ordnungen und benennt damit den entscheidenden Fragehorizont: Wie werden Glaubensreflexionen verbindlich und welche Handlungsorientierung ist aus ihnen abzuleiten? Dass diese applikativen Transformationsprozesse alles andere als glatt verlaufen, darf vermutet werden und wird in den Beiträgen zumindest am Rande sichtbar. Freilich – und hier deutet sich ein Desiderat weiterer Forschung an– ist die Umsetzung von normativen Ordnungen in alltagspraktisch nachweisbares Handeln nach wie vor in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und seiner vielen Ausformungen ungeklärt. Daran ändern auch die lesenswerten Beiträge des Sammelbandes wenig. Sie beschränken sich zu einem großen Teil auf normative Texte und behandeln die Frage ihrer Umsetzung eher marginal. Einzig Thomas Weller nimmt die Kleider- und Auf­wandsordnungen zum Anlass, nach (vermeintlichen) Missbräuchen und gesellschaftlichen Traditionen Ausschau zu halten.
Ordnungen werden aus folgenden Bereichen gesellschaftlicher Wirklichkeit untersucht: zunächst die allgemeinen Ordnungen gesellschaftlichen Zusammenlebens oder guter Policey (Sabine Arend, Johannes Staudenmaier, Christian Winter) und als Spezialfall öffentlicher Rechtsprechung die Brunnen- und Wasserordnungen in der Frühen Neuzeit (Susan Richter). Ordnungen der entstehenden Konfessions-Kirchen thematisieren Arne Butt, Heiko Jadatz und Stefan Michel. Der Ausbildungsbereich wird von Thomas Töpfer (Schulen) und Armin Kohnle (Universitäten) behandelt. Zu dem, zunächst im spätmittelalterlichen Verständnis noch dem kirchlichen Bereich zugeordneten Feld von Armutsfürsorge, Eheordnung und Bestattungsregeln, die im Rahmen der reformatorischen Neuordnung in staatliche Obhut gerieten, äußern sich Christian Peters, Henning P. Jürgens und Robert Kolb. Einen Sonderfall öffentlicher Ordnung thematisiert Joachim Berger, indem er die Hofordnungen der frühen Neuzeit als eine neu entstandene Quellengattung rekonstruiert und deren kulturgeschichtliche wie konfessionspolitische Bedeutung herausstellt.
Der Band bietet, wie zahlreiche vor ihm veröffentlichte Sammlungen der Herausgeber von Beiträgen zur Wittenberger Frühjahrstagung, im Detail die eine oder andere Vertiefung und er­laubt im thematischen Fokus durchaus eine gewisse Übersicht zum Thema. Der Kreis, zumeist aus einem festen Stamm an Beiträgern mit einigen aus sachlogischen Gründen hinzugebetenen Referentinnen und Referenten, hat methodisch wie inhaltlich inzwischen eine klare Kontur und einen hohen Wiedererkennungswert. Wenn er, wie abzusehen ist, in das zweite Dezennium seines Bestehens gerät, wird sich seine Innovationsbereitschaft und seine Anschlussfähigkeit zu laufenden Forschungsdiskursen außerhalb der theologischen Reformationsgeschichtsforschung zu bewähren haben. Das betrifft nicht die, fraglos bedeutende, rechtshistorische Dimension, sondern vor allem diskursanaly-tische Problembeschreibungen und kulturwissenschaftliche Fragestellungen, wie sie zumindest ansatzweise im Beitrag Bergers aufscheinen. Niemand vermag ab­zusehen, wie sich die hermeneutisch arbeitenden historischen Disziplinen der sogenannten Geis­teswissenschaften weiterentwickeln. Es ist zu wünschen, dass der Kreis der Wittenberger Frühjahrskonferenz hier eine gewisse Vorreiterrolle übernimmt.