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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

622-623

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lohse, Eduard

Titel/Untertitel:

Die Wundertaten Jesu. Die Bedeutung der neutestamentlichen Wunderüberlieferung für Theologie und Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2015. 174 S. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-17-028895-9.

Rezensent:

Walter Klaiber

Dieses Buch ist ein Vermächtnis – nicht nur, weil es wohl das letzte Werk Eduard Lohses (1924–2015) ist, sondern weil es noch einmal beispielhaft seine exegetische Arbeit repräsentiert: Dem Text verpflichtet, ohne Scheu vor kritischen Fragen und Antworten, allen exzentrischen Hypothesen abhold, mit einem offenen Ohr für die Botschaft und der Fähigkeit, sie in verständlichen Worten weiterzugeben.
Wie Literaturverzeichnis und Anmerkungen zeigen, hat L. auch neuere und neueste Literatur eingesehen und eingearbeitet, aber seine Hauptgewährsleute sind doch die Klassiker der historisch-kritischen Exegese des 20. Jh.s, allen voran Rudolf Bultmann und sein Lehrer Joachim Jeremias, dessen Gedenken das Buch gewidmet ist. Daneben treten die wichtigen Arbeiten zur Wunderfrage aus den 1960er und 1970er Jahren. Damit stehen die form- und traditionsgeschichtlichen Aspekte der Auslegung der Wundergeschichten im Vordergrund, während sprachlich-narratologische Fragestellungen nur implizit mit bedacht werden.
Das Werk gliedert sich in drei Teile: In I. Grundlegung – Fragen und Aufgaben (11–60) geht es um methodische und grundsätzliche Fragen: das Verhältnis neutestamentlicher Wundergeschichten zum antiken Wunderverständnis, formgeschichtliche Aspekte, der Anhalt der Berichte an dem, was wir über den historischen Jesus wissen können, und das Verhältnis von Glaube und Wunder.
Teil II. Durchführung: Die Wundertaten Jesu in urchristlicher Darstellung (61–112) behandelt die unterschiedlichen Arten von Wunderberichten in den synoptischen Evangelien: Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen, Blindenheilungen, Totenerwe-ckungen und Naturwunder.
Teil III. Schluss: Die Wundertaten Jesu im Zeugnis des Evangeliums (113–136) zeigt die Bedeutung der Wundertaten Jesus im Kontext seiner Verkündigung, in der Auslegung der Evangelisten und in Predigt und Lehre der Kirche auf. Den Abschluss bildet ein Anhang (137–160), der die Wundertaten Jesu im Johannesevangelium und Wunder im Urteil des Apostels Paulus (einschließlich der Apostelgeschichte) behandelt.
Der Reichtum an Beobachtungen, den L. in seinen knappen Exegesen der einzelnen Wunderberichte und seinen systematisierenden Überlegungen ausbreitet, lässt sich in einer Rezension nicht angemessen wiedergeben. Hier seien die wichtigsten Ergebnisse skizziert. L. betont sehr stark den Konsens der historischen Forschung, dass Jesus Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben hat. Er hat sich damit Anschauungen seiner Zeit bedient, um für die Menschen die Bedeutung seiner Sendung aufzuschließen. Dabei macht L. – zu Recht – nicht den Versuch, diesen historischen Kern der Berichte kritisch zu rekonstruieren. Sehr viel wichtiger ist ihm – auch hier im Einklang mit der neueren Forschung – dass für Jesus seine wunderbaren Taten Teil seiner Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes waren und nur so richtig verstanden werden können. Mt 12,28 par Lk 11,20 bekommt damit eine Schlüsselrolle für die Deutung der Wunder Jesu.
Diese theologische Linie verfolgt L. auch, wo er die Geschichte der Überlieferung der einzelnen Berichte in der Verkündigung der frühen Christenheit und der Darstellung der Evangelien verfolgt. Dort, wo die wunderhaften Züge verstärkt wurden oder – wie bei vielen »Naturwundern« – sich nach dem Vorbild alttestament-licher Erzählungen neue Erzählungen formten, standen diese im Dienst der Verkündigung. Gerade in Letzteren spiegelt sich das Bekenntnis zu dem auferstandenen Christus wider. Die Erfahrung seiner rettenden Nähe wird in bildhafter und symbolträchtiger Weise auf Ereignisse während seines irdischen Wirkens zurückprojiziert (so besonders in der Geschichte von der Sturmstillung Mt 4,35–41 par Mt 8,23–37). Sehr sorgfältig zeichnet L. dann auch das unterschiedliche Profil der Wundererzählungen in den drei synoptischen Evangelien nach.
Merkwürdigerweise hat L. die Behandlung der Wunderberichte bei Johannes (und die Bedeutung der Wunder für Paulus) in einen Anhang verbannt. Sowohl für Johannes als auch bei Paulus stellt er eine ambivalente Einstellung gegenüber Wundern fest. Beide bejahen Wunder – und Johannes erzählt ja gerade die eindrücklichsten von ihnen im ganzen Neuen Testament –, aber beide relativieren auch ihre Bedeutung für den Glauben. Von daher hätte ich mir noch ein paar kritischere Worte zum »leicht triumphalistische[n] Ton« (154) der Apostelgeschichte gewünscht.
Angesichts des Untertitels des Buches, der auch Ausführungen zur »Bedeutung der […] Wunderüberlieferung für Theologie und Kirche« verspricht, könnte man als einziges Defizit des Werkes nennen, dass der entsprechende Abschnitt über Die Wundertaten Jesu in Predigt und Lehre der Kirche (130–135) doch etwas knapp ausfällt und so gut wie nicht auf heutige Fragestellungen eingeht. Klar ist, dass die Verkündigung der Wunder Jesu nicht Glauben an die entsprechenden Berichte fordert, sondern auf Jesus selbst, seine Botschaft und seine Bereitschaft, auch den Hilferuf der Kranken und Leidenden zu hören, hinweist und zum glaubenden Vertrauen auf ihn einlädt.
Obwohl im Gespräch mit der Fachwissenschaft geschrieben, dürfte das Buch auch für interessierte Laien verständlich sein und eignet sich deshalb auch als Grundlage für ein Gespräch über die Wunder heute. Wer es liest, wird es dankbar aus der Hand legen – dankbar für die Orientierung, die es bietet, und dankbar für das Lebenswerk seines Autors.