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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

947 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Angerhausen, Susanne, Backhaus-Maul, Holger, Offe, Claus, Olk, Thomas, u. Martina Schiebel

Titel/Untertitel:

Überholen ohne einzuholen. Freie Wohlfahrtspflege in Ostdeutschland.

Verlag:

Opladen-Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. 333 S. 8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-531-13298-9.

Rezensent:

Reinhard Turre

Das Autorenkollektiv aus Berliner und Hallenser Soziologen hat sich eine doppelte Aufgabe gestellt: Sie haben untersucht, was bei dem Institutionstransfer des Systems der Freien Wohlfahrtspflege unter den Bedingungen in Ostdeutschland geworden ist und was die nun vorfindliche Gestalt wohlfahrtspflegerischer Arbeit für die weitere Entwicklung in Deutschland bedeutet. Der Titel ruft Erinnerungen an das Programm staatlicher Gesundheits- und Sozialpolitik in der DDR wach. Er wird aber durchaus zur positiven Beschreibung der nun im Osten Deutschlands formierten Gestalt der Freien Wohlfahrtspflege.

Im ersten Teil des Buches wird die Geschichte der freien Wohlfahrtspflege im Westen und im Osten Deutschlands sowie ihr vorrangiger Aufbau im Osten nach der Wende 1989 beschrieben. Der zweite Teil stellt die Ergebnisse zahlreicher Interviews sowohl auf der Landesebene zweier Bundesländer wie auch auf der Ebene verschiedener Einrichtungen in einigen Landkreisen vor. Dabei wird die Volkssolidarität wegen ihrer umfänglichen Arbeit in der DDR noch gesondert neben dem Paritätischen Wohlfahrtsverband aufgeführt. Den neu entstandenen selbstorganisierten Initiativen und Vereinen, denen die Vff. schon in frühereren Veröffentlichungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Im letzten Teil des Buches werden statistische Vergleiche angestellt, die nur einen begrenzten Wert haben sowie interessante Vergleiche zwischen den in den verschiedenen Verbänden Handelnden vorgenommen. Deren Namen wie auch die Orts- und Länderbezeichnungen werden verfremdet und sind so nur dem Kundigen zugänglich.

Als ein in der Diakonie Verantwortlicher beschränke ich mich auf deren Darstellung und Bewertung. Sowohl für den Caritasverband wie für das Diakonische Werk ist der Transformationsprozeß nach der politischen Wende nicht so einschneidend gewesen wie die Vff. vermuten, die zum überwiegenden Teil aus der alten Bundesrepublik schon mit einer Verbändekritik gekommen sind. Lediglich die Verdreifachung der Arbeit hat natürlich auch zu strukturellen und personellen Veränderungen geführt. Richtig haben die Vff. die Möglichkeiten eigenständiger Entfaltung unter den Bedingungen des Sozialstaates mit seiner Präferenz der Freien Wohlfahrtspflege beschrieben. Die Organisation der konfessionellen Verbände nun wieder in der Vereinsform, wie sie ja in ihren Anfängen schon einmal organisiert waren, bedeutete, wie richtig herausgearbeitet wird, nicht die Trennung von den sie eigentlich tragenden Kirchen. Die organisatorische Trennung dient lediglich der effektiven und flexiblen Arbeit, bedeutet aber keine Absage an die kirchliche Verwurzelung, wie sowohl das Leitbild der Caritas als auch das der Diakonie zeigt. So wird aus den Interviews mit den vor Ort Verantwortlichen durchaus zutreffend beschrieben, wie diese ihre diakonische Tätigkeit als eine Wesensäußerung ihrer Kirche verstehen.

Zu Recht machen die Verfasser auf das Problem aufmerksam, wie diese Bindung an die Kirchen aufrechterhalten werden kann, wenn ein hoher Prozentsatz der Mitarbeiter ihr nicht angehören. In der Kirchenprovinz Sachsen sind dies knapp die Hälfte. Das allgemeine Problem hat Thomas Olk schon früher mit der Tendenz "Von der Wertegemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen" beschrieben. Diese Tendenz soll offenbar in der vorgelegten Untersuchung für den Bereich Ostdeutschland belegt und als vermutete Richtung im vereinten Deutschland festgemacht werden. - Künftig muß das von Olk und seinen Mitstreitern angestoßene Gespräch über das tatsächliche Profil der einzelnen Verbände weitergeführt werden. Sind diese nur quasi staatliche Agenturen für das soziale Handeln oder ist deren unterscheidbares Angebot auch weiter gewollt und gewährleistet? Im Osten Deutschlands stellt sich angesichts der fortgeschrittenen Säkularisierung und Nivellierung weltanschaulicher Überzeugungen diese Frage dringlicher als im Westen. Die Verfasser haben aber völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß gerade in dieser Frage der Osten den Westen überholt hat, ohne ihn einzuholen.

Jeder sozialen Arbeit liegt ein Werturteil zugrunde. Es kann nicht bei der von den Soziologen dieser Schule mit Recht beobachteten Abnahme weltanschaulicher Motivierung und Orientierung und damit verbundenen Profilierung in den Wohlfahrtsverbänden bleiben. Die vom DRK, der Caritas und der Diakonie erarbeiteten Leitbilder sind ein Indiz dafür, daß diese Entwicklung auch in den Verbänden erkannt worden ist. Es wird interessant sein, wenn die vorliegenden wertvollen Erkundungen in Ostdeutschland nach 10 Jahren wiederholt und Vergleiche zu der heutigen Situation im Osten und zu der im Westen angestellt werden. - Die vorgelegte Untersuchung zeigt, wie flexibel die Vertreter aller Verbände die Herausforderung nach der politischen Wende angenommen haben. Die noch in den Anfängen nötige Hilfestellung aus dem Westen Deutschlands hat die Verbände nun in die Eigenständigkeit entlassen. Drei Fragen wären der weitergehenden Untersuchung nun am besten gleich im West-Ost-Vergleich wert:

1. Wird das Subsidiaritätsprinzip von den Vertretern staatlicher Ämter weiter anerkannt oder wird es angesichts der finanziellen Verknappung eher wieder wie in der ehemaligen DDR zu zentralistischen Verhaltensweisen kommen?

2. Werden die Wohlfahrtsverbände ihre Stellung als intermediäre Organisationen nutzen, um sowohl politisch wirksam zu bleiben wie auch zur Bewußtseinsbildung in der Gesellschaft zu mehr sozialer Gesinnung beizutragen?

3. Werden die Wohlfahrtsverbände die neu entstehenden Initiativen und Vereine so unterstützen, daß diese stabil und kontinuierlich ihren Platz in der Zivilgesellschaft behaupten können?

Das Buch sei allen an der Weiterentwicklung des Sozialstaates und an der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements Interessierten wärmstens empfohlen.