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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

598-600

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gabbay, Uri

Titel/Untertitel:

Pacifying the Hearts of the Gods. Sumerian Emesal Prayers of the First Millennium BC.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. XX, 356 S. m. Abb. = Heidelberger Emesal-Studien, 1. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-447-06748-5.

Rezensent:

Giovanna Matini

Das Buch stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung des ersten Teils der Dissertation dar, die Uri Gabbay an der Hebrew University of Jerusalem im Jahre 2007 eingereicht hat. Der ursprüngliche Titel lautete »The Sumero-Akkadian Prayer ›Eršema‹: A Philological and Religious Analysis« und das Werk wurde von Prof. Dr. Stefan Maul (Heidelberg) und Prof. Nathan Wasserman (Jerusalem) betreut.
Während der zweite Teil, der ebenfalls bei Harrassowitz erschienen ist (»The Eršema Prayers of the First Millennium BC«, Heidelberger Emesal-Studien 2, 2015), spezifisch der philologischen Bearbeitung von Keilschrifttexten gewidmet ist, bildet der hier besprochene erste Band eine allgemeinere Einführung in das Thema der sogenannten Emesal-Klagelieder. Es handelt sich dabei um eine besondere altorientalische Literaturgattung, die sich bereits im 3. Jt. v. Chr. in Mesopotamien entwickelte und sich einer ausgesprochen langen Beliebtheit erfreute. Die Kompositionen, die dazu zählen, wurden nämlich ab dem 2. Jt. v. Chr. zu einem unabdingbaren Bestandteil des täglichen Götterkultes, so dass sie von den dafür zuständigen Priestern immer wieder kopiert und überliefert wurden. Die letzten Exemplare, die auf uns gekommen sind, werden in die ersten Jahrhunderte n. Chr. datiert: Das zeugt also für eine sich über zwei Jahrtausende hinwegziehende Tradierungsgeschichte, die kaum weitere Parallelen im mesopotamischen Raum hat.
Es sei jetzt kurz auf Sprache, Form und Inhalt dieser Texte eingegangen. Wie schon erwähnt, wurden sie zum Teil in Emesal verfasst. Emesal ist ein Soziolekt der sumerischen Sprache, die von den ersten schriftkundigen Einwohnern Mesopotamiens im 3. Jt. v. Chr. ge­sprochen wurde. Der sumerische Begriff eme-sal heißt ins Deutsche übertragen »feine Sprache« und bezeichnet eine spezielle Variante des Idioms, die in den Texten ausschließlich von Frauen und Göttinnen verwendet wurde. Im Laufe der Zeit kam aber allmählich auch eine andere Kategorie zum Vorschein, die sich des Emesals als Fachjargon bediente. Es ist die Rede von den sogenannten Klagepriestern (gala auf Sumerisch, kalû auf Akkadisch), die die Aufgabe hatten, mit ihren litaneiartigen und musikalisch untermalten Liedern den Zorn der Götter zu besänftigen bzw. zu verhindern, dass er überhaupt ausbrach. Im alten Zweistromland glaubte man nämlich, dass jede menschliche Handlung, selbst wenn unbeabsichtigt, die Götter verstimmen könnte. Als Gegenmaßnahme trat also jeden Tag der Klagepriester im Tempel vor der Götterstatue auf und sang Emesal-Kompositionen, die mit eindrucksvollen literarischen Bildern die verheerenden Konsequenzen der göttlichen Wut schilderten, um eben ähnliche, noch nicht eingetretene, jedoch immer auf der Lauer liegende furchtbare Reaktionen seitens der Götter apotropäisch und prophylaktisch abzuwehren. Auf diesen »Sitz im Leben« der Emesal-Lieder bezieht sich auch der Titel von G.s Publikation: »Pacifying the Hearts of the Gods«.
Die Text- und Kulttradition der Klagelieder, deren Anfänge sicher in das 3. Jt. v. Chr. anzusetzen sind, wird aber erst nach einer für uns schwierig nachvollziehbaren langen mündlichen Tradierung in der altbabylonischen Epoche, d. h. in der ersten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr., schriftlich niedergelegt. Es bildet sich somit ein sehr uneinheitliches Panorama, in dem fast jede wichtige mesopotamische Stadt ihre eigenen Kompositionen entwickelt und in der religiösen Praxis verwendet. Das ändert sich jedoch im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr. Es kommt nämlich zu einem Standardisierungs- und Kanonisierungsprozess, der im 1. Jt. v. Chr. völlig abgeschlossen zu sein scheint. Die Text-Exemplare, die auf diese Epoche zurückgehen, sind tatsächlich durch einen immer gleich bleibenden Wortlaut gekennzeichnet, obwohl sie aus verschiedenen Städten kommen. Eine weitere Eigenschaft, die sie von ihren älteren Vorfahren unterscheidet, ist die Anwesenheit einer akkadischen kommentierenden Übersetzung, welche in der Regel leicht eingerückt unter der Originalzeile niedergeschrieben wurde. Es handelt sich dabei meistens nicht um eine wortwörtliche Wiedergabe des Sumerischen, sondern um einen eigentlichen philologischen Kommentar, der versucht hat, die tückischsten Stellen des Originals in einem für den babylonischen oder assyrischen Leser verständlicheren Idiom zu erklären. Man muss sich nämlich der Tatsache bewusst werden, dass das Sumerische als gesprochene Sprache bereits um 2000 v. Chr. ausgestorben war: Die Klagepriester der späteren Epochen waren also im Grunde Babylonier oder Assyrer, die in einem künstlich am Leben erhaltenen »Kirchenlatein« ihren Dienst im Tempel zelebriert haben.
Obwohl die Emesal-Klagelieder ein überaus wichtiges Textcorpus für unser Verständnis der mesopotamischen Religion und Kultpraxis darstellen, wurde ihnen bis jetzt vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Umso mehr ist die Initiative von G. zu loben, der sich im Gegensatz zu den meisten Fachkollegen nicht darauf beschränkt hat, eine Neuedition von Keilschrifttexten zu liefern, sondern ein ganzes Buch als Einstieg in das spannende Thema der Klageliteratur konzipiert und in einem auch für Spezialisten anderer Disziplinen bekömmlichen Stil verfasst hat.
Abgesehen von den oben angedeuteten Inhalten, auf die in G.s Buch ausführlich eingegangen wird, möchte ich auf einige Themen hinweisen, deren Behandlung ich für besonders gelungen und aufschlussreich halte.
Zum einen handelt es sich um die musikalische Performance der Emesal-Lieder, die offensichtlich eine grundlegende Rolle im Tempelkult gespielt haben muss (Kapitel VI). Die verschiedenen Gattungen der Klagelieder werden in der Tat auf Sumerisch nach den diversen Instrumenten benannt, die ihre Ausführung untermalten (balaĝ = »Harfe« bzw. »Trommel«; eršema = »Lied, das auf der šèm-Trommel gesungen wird« etc.). Diese werden von G. einzeln dargestellt, wobei für jedes die schriftlichen Belege zusammengestellt und analysiert, die Etymologie erläutert und das Aussehen beschrieben werden. Darüber hinaus beschäftigt sich G. mit der theologischen Relevanz der musikalischen Instrumente, die oft mit Göttern identifiziert wurden, und schildert im Detail die diversen möglichen Gesang- und Musikkombinationen bei der Aufführung von Emesal-Liedern.
Als letzten Punkt möchte ich besonders die außerordentliche philologische Akribie hervorheben, die G. im Kapitel IX (»Scribal Transmission of Emesal Prayers«) unter Beweis gestellt hat. Nach den ersten beiden Paragraphen, die den Tafelformaten und der Ausbildung der Klagepriester gewidmet sind, konzentriert er sich auf die Rekonstruktion der fünf wichtigsten gala/kalû-Familien, die im 1. Jt. v. Chr. in verschiedenen mesopotamischen Städten tä­tig waren. Aufgrund der in den Kolophonen verzeichneten Daten gelingt es ihm in den meisten Fällen, durch eine aufmerksame prosopographische Untersuchung die verschiedenen Stufen des cursus honorum jedes Mitglieds einer Dynastie chronologisch fest zu verankern und uns folglich Einblick in das Alltagsleben eines alt-orientalischen Tempels zu gewähren.