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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

596-598

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Reuter, Astrid

Titel/Untertitel:

Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 356 S. = Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft, 5. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-525-54023-7.

Rezensent:

Helmut Goerlich

Die Erfurter religionswissenschaftliche Habilitationsschrift von Astrid Reuter macht sich viel Mühe mit der juristischen Aufarbeitung jüngerer religionsbezogener Konflikte um das Kreuz im Klassenraum, das Tuch um das weibliche Haupt und den Religionsunterricht sowie seine Substitute in der Schule. Der dafür notwendige Rahmen wird zunächst gefunden. Dann folgen die Konflikte. Den Raum dieses Rahmens erschließt R. unter Bezugnahme vor allem auf Max Weber, aber auch mit Hilfe von jüngeren Ergebnissen der religionswissenschaftlichen Forschung. Entstanden ist die Arbeit im Forschungskontext des Max-Weber-Kollegs in Erfurt und des Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« in Münster, von dem sie auch einen Druckkostenzuschuss erhielt, während die Reihe, in der sie erschienen ist, weder der einen noch der anderen Einrichtung zuzuordnen ist, auch nicht über ihre Herausgeber. Die jüngeren Forschungen ergeben ein sozusagen mobiles Verständnis des Religiösen im Sinne eines Feldes religiöser Ausdrucksformen. Dieses Feld betreten unvermeidlich auch die staatlichen Gerichte, da sie die Religionsfreiheit und ihre Grenzen auslegen müssen, wiewohl auch Definitionsmacht ebenso bei den Gläubigen wie bei denjenigen liegt, die eine Weltanschauung beanspruchen, und zudem bei denjenigen, die nichts von alledem wissen wollen – wobei sich im letzteren Falle die Freiheit von ihrer Kehrseite her bewähren muss. Die Gerichte und die Rechtswissenschaft beschäftigen so – im Sinne des Untertitels der Schrift – allemal »Grenzarbeiter« solcher Freiheit. Auf der anderen Seite sieht R. das Interesse an einem stabilisierenden Verhältnis von Staat und Religion, wie zumal der Fall des Religionsunterrichts zeigt.
Der Titel des Buches setzt neben einer Kenntnis dessen, was Religion und was Recht ist oder ausmacht, voraus, dass es Gesellschaften gibt, die sich nicht eines wie immer gearteten Rechts bedienen. Die Arbeit befasst sich nach ihrem Untertitel näher mit Rechtskonflikten und öffentlichen Kontroversen »als Grenzarbeiten am religiösen Feld«, wobei Letzteres wohl als Metapher zu verstehen ist. Die Untersuchung umfasst dann zwei Teile: einen ersten, der auch den Titel der Arbeit weiter konkretisiert, nämlich zu »Religion in der ver(grund)rechtlichen Gesellschaft. Systematische Grundüberlegungen«, sowie einen zweiten, der Fallbeispiele zu Religionsrechtskonflikten und -kontroversen als »Grenzarbeiten am religiösen Feld« abarbeitet. Die Fallbeispiele sind, um von dieser Seite her zuerst zu berichten, das Kreuz in der Schule, das Kopftuch der Lehrerinnen und anderer Personen sowie schließlich der Status der Religion im Unterricht einschließlich des herkömmlichen Religionsunterrichts der Mehrheit der Bundesländer samt LER und anderen Neuerungen.
Im ersten Teil sucht die Arbeit die Grundlagen für ihre Fallstudien darzustellen, darunter religionssoziologische Erwägungen in Anlehnung an Pierre Bourdieu und Max Weber, um dann ihre »Ver(grund)rechtlichungsthese« zu erhärten und Probleme der Religionsfreiheit darzustellen. Neben einleuchtenden Beobachtungen findet die Arbeit dabei Anschluss an die Thesen des früheren Leiters des Max-Weber-Kollegs Hans Joas, dessen Kontroverse um die religiöse Fundierung der Menschenwürde oder vielleicht gar der Menschenrechte überhaupt sie indes nicht ausbreitet; das wäre wohl möglich gewesen, da seine einschlägige Schrift hierzu 2011 erschien.
Indes unterblieb unvermeidlich eine Ausschöpfung der jüngeren Veröffentlichungen von Horst Dreier, also etwa dessen Schrift zu »Säkularisierung und Sakralität« (2013) oder sein jüngster Beitrag, der zudem in die angelsächsische Tradition der Religionsfreiheit ausgreift (Zur Bedeutung der Reformation bei der Formierung des säkularen Staates, in: M. Reichel u. a. [Hrsg.], Reformation und Politik, 2015), aber zu spät erschien, als dass er hätte berücksichtigt werden können. Auch findet man die seit 1895 mit Georg Jellinek verbundene, keineswegs abgeschlossene Debatte um den Ursprung der Religionsfreiheit nicht fortgesetzt (hierzu wäre folgender Aufsatz aus anderem Anlass von großem Interesse: John Baker, Magna Carta and Personal Liberty, in: R. Griffith-Jones/M. Hill [Eds.], Magna Carta. Religion and the Rule of Law, 2015, 81 ff.).
Insoweit fixiert sich die Schrift eher auf die These von Ernst-Wolfgang Böckenförde zur Entstehung des Staates aus dem kontinental-europäischen religiösen Bürgerkrieg, die indes nach älteren Arbeiten von Horst Dreier ebenso fragwürdig geworden ist wie die sich ständig zu höherer Weihe fortwindende Debatte um das sogenannte Böckenförde-Diktum, das eigentlich gar keines dieses Autors ist, wie man weiß, nachdem die Quelle des Diktums gefunden ist. Ein weiterer Makel des »Diktums« ist außerdem, dass es die Entwicklung einer angemessenen Theorie der normativen Kraft der demokratischen Verfassung behindert hat (dazu H. Goerlich, Die Legitimation von Verfassung, Staat und Recht bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: R. Mehring/M. Otto [Hrsg.], Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, 2014, 194 ff.). Dies gilt, selbst wenn man – wie offenbar R. – das sogenannte Diktum mit Ulrich K. Preuß so auslegt, wie er das getan hat – allerdings in bewusster Abweichung von »böckenfördischen« Lesarten sowie offenbar auf einem Podium und gedruckt in einer etwas obskuren Festschrift anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises »für politisches Denken« an Böckenförde. Nach dieser Preußschen Deutung soll sich besagtes »Diktum« nämlich auf das individuelle Gewissen jeden Bürgers eines Staates und mithin auf den demokratischen Prozess beziehen; eine Auslegung ersichtlich der Sache nach in Näherung an Jürgen Habermas. Dies ändert aber nichts am schillernden Rätsel, das hier in die Welt gesetzt wurde. Man wollte wohl enigmatisch und aphoristisch ähnlich der Raffinesse eines Carl Schmitt glänzen – eine Raffinesse, die indes wissenschaftlich fragwürdig ist, abgesehen von der Herkunft der Formel aus den politischen Schriften von Joseph von Eichendorff und dem dort gegebenen Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte im Preußen der ersten Hälfte des 19. Jh.s, im Zug der Zeit im Anschluss an Hegel, der den Volksgeist ins Spiel brachte.
Im Ganzen stellt diese Arbeit eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit juristischen Kontroversen in ihren Auswirkungen auch jenseits des Rechts dar. Das macht eine Würdigung für einen Juristen schwierig. Nicht nur findet er die Sprechweisen seines Faches des Öfteren karikiert; zudem sind die Per-­spektiven zu einzelnen Entscheidungen und Argumentationssträngen aus juristischer Sicht öfter verfehlt. Darüber hinaus werden auch die institutionellen Zusammenhänge strapaziert, in denen das juristische Auge die Gerichte, die Legislativen und die Verwaltungen sowie last not least die individuellen Akteure – zu schweigen von den Religionsgemeinschaften und ihren Vertretern in diesem Konzert – sieht. Dennoch ist die Schrift ein wichtiger Beitrag zur Debatte. Denn sie liefert eine Außenperspektive zu den rechtlichen Auseinandersetzungen und ermöglicht so eine Reflexionsebene, derer die Rechtswissenschaft bedarf. Deshalb sollten die Juristen sie zur Kenntnis nehmen, vielleicht weniger als die Theologen, die gut daran tun, wenn sie sich der Zunft des Rechts in all diesen Fragen nähern. Dort werden sie auch eher den aktuellen Stand der Debatten und eine noch breitere Auswertung der Fachliteratur finden, als das hier geschehen ist (wobei natürlich Rezensenten die Stirn runzeln, wenn ihre eigenen opuscula übersehen sind, hier H. Goerlich, Krieg dem Kreuz in der Schule?, NVwZ 1995, 1184 ff.) – abgesehen davon, dass die Schrift an ihrem zögerlichen Erscheinen leidet, wie die Dreier/Joas-Debatte sichtbar macht und auch die letzten Entscheidungen zeigen, insbesondere die des Bundesverfassungsgerichts aus den ersten Tagen des Jahres 2015 zum Kopftuch, die eine neue Runde im Kopftuch-Streit eröffnen und von deren Kommen R. ausweislich einer Fußnote wusste.
Alles in allem aber dennoch eine interessante Schrift, die angesichts der Aktivität R.s sicher nur eine Zwischenstation ihrer Arbeit darstellt, wie es bei Habilitationsschriften ja auch der Fall sein darf und soll; bei all denen, die ihrem Gegenstand treu bleiben, ist das unvermeidlich und daher hinzunehmen.