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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

944–946

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Mirjam

Titel/Untertitel:

Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen. Medizinisch-empirische, juristische, sozialpsychologische und philosophische Grundlagen ethischer Beurteilung und Folgerungen, unter besonderer Berücksichtigung der Infantizidthesen von Peter Singer und Helga Kuhse.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1997. XXIII, 423 S. 8. ISBN 3-631-32760-9.

Rezensent:

Ulrich Eibach

Diese Studie wurde im Sommersemester 1997 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (Diakoniewissenschaftliches Institut, Prof. Dr. Dr. Th. Strohm) als Dissertation angenommen. Sie behandelt die sehr schwierige Problematik von Behandlungsentscheidungen bei Frühgeborenen und bei schwerstgeschädigten Neugeborenen aus medizinisch-empirischer, juristischer, sozialpsychologischer, philosophisch-ethischer und theologisch-ethischer Sicht.

Die Neugeborenenmedizin hat im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht. Die Überlebensmöglichkeit Frühstgeborener konnte durch aufwendige intensivtherapeutische Behandlungen bis auf die 22. Woche "post conceptionem" und ein Gewicht unter 500 g gesenkt werden. Zugleich wurden die Möglichkeiten, schwerstkrank und schwerstbehindert geborene Säuglinge medizinisch zu behandeln, stetig verbessert. Allerdings sterben viele dieser Säuglinge trotz der intensivtherapeutischen Behandlungen oder bleiben dauernd auf aufwendige medizinische Behandlungen angewiesen oder überleben mit schweren hirnorganischen und körperlichen Beeinträchtigungen. Dies wirft die Frage auf, wo die Grenzen der Behandlungen bei solchen Säuglingen liegen. Dabei ist dieser ganze Fragenkomplex im Zusammenhang zu sehen mit dem Schwangerschaftsabbruch aus ehemals "kindlicher bzw. embryopathischer Indikation", die immer wieder auch zur ungewollten Geburt lebensfähiger Kinder führt, die man dann unbehandelt sterben läßt. Gleichzeitig behandelt man unter dem Dach der gleichen Klinik Säuglinge intensiv-therapeutisch, deren Behinderung vielleicht wesentlich schwerer ist.

Die Autorin hat eine Befragung an 230 neonatologischen Zentren und Abteilungen in Deutschland mit dem Ziel durchgeführt zu ermitteln, nach welchen medizinischen und ethischen Kriterien Behandlungsentscheidungen getroffen werden. Sie ergab, daß in diesen Kliniken völlig unterschiedlich, ja teils sehr widersprüchlich und mit ganz unterschiedlichen ethischen oder sonstigen Begründungen verfahren wird, teils solchen Begründungen, die auf eindeutigen "Lebensunwerturteilen" basieren.

Dieser Tatbestand zeigt die Notwendigkeit einer Einigung auf durchsichtige medizinische und ethische Kriterien für Behandlungsentscheidungen an. Dazu will die Vfn. einen Beitrag leisten, indem sie die gesamte Problematik sehr umfassend aus Sicht der genannten verschiedenen Wissenschaftsbereiche darstellt. Das entspricht ihrem problemorientierten methodisch-ethischen Ansatz und zugleich ihrer ethischen Zielsetzung, nach der ethische Überlegungen zunächst eine deskriptive Aufgabe haben, durch die die jeweilige Situation nach den impliziten ethischen Problemen und Annahmen befragt und die Handlungsentscheidung "hinsichtlich ihrer zugrundeliegenden Kriterien und Maximen systematisch" untersucht wird, "mit dem Ziel, Handlungsorientierung zu geben und Argumentationszusammenhänge überprüfbar und kommunizierbar zu machen" (367). Der Beitrag normativ präskriptiver Ethik wird nicht darin gesehen, daß sie unmittelbare Handlungsanweisungen in der konkreten Situation gibt, sondern darin, für den ethischen Diskurs "ein Set von Kriterien mit begrenzter Gültigkeit bereitzustellen, die bei einer konkreten Entscheidungssituation zu berücksichtigen und retrospektiv zu benennen sind" (376). "Der Vielschichtigkeit einer jeweiligen Entscheidungssituation korreliert deshalb ein polygonales Geflecht ethischer Aspekte, das eher den Charakter eines Mosaiks aufweist, aber dadurch der Unschärfe konkreter Lebenssituation am ehesten entspricht" (367).

Insbesondere die theologische Ethik kann keine konkreten Entscheidungskriterien anbieten. Ihr Beitrag besteht einmal darin, in den ethischen Diskurs allgemeine positive "Orientierungszeichen", z. B. hinsichtlich des Verständnisses von Leben (z. B. Ganzheit des leiblichen Lebens und nicht nur Rationalität, Krankheit, Behinderung, Heilung, Tod) einzubringen und von da aus andererseits Hinweise auf Gefahrenzonen der jeweiligen Handlungszusammenhänge zu geben. Dazu gehört nicht zuletzt auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Menschenbild von Philosophen der empiristisch-utilitaristischen Denkrichtung (Peter Singer u. a.), die behindert Neugeborenen das volle Menschsein bzw. umfassendes Menschenrecht absprechen. Da die Diskussion über die Nichtbehandlung behinderter Neugeborener vor allem von ihnen geführt wird, nimmt die Darstellung und Kritik ihrer Positionen (233-307), vor allem der von Peter Singer und Helga Kuhse (253-307), breiten Raum ein. Zugleich zeigte die Autorin in einer Befragung von Oberstufenschülern, daß deren Meinungstendenz in vielem den Ansätzen und Gedanken Singers entspricht (171-185).

Die Autorin weist zu Recht darauf hin, daß Entscheidungen in diesem Bereich meist den Charakter des "Tragischen" haben (359 ff.), daß sie von allen an der Entscheidung beteiligten gemeinsam verantwortet werden müssen. Mit dieser "integrativen Verantwortungsethik" glaubt sie einen Weg mitten hindurch zwischen der Skylla einer relativistischen Situationsethik und der Charybdis "eines auf logischem Formalismus basierenden universellen Präskriptivimus" (366) hindurchzufinden. Doch hinterläßt dieser ethische Ansatz und seine Durchführung die Frage, ob sich etwa Philosophen der analytischen Schule mit ihrem Insistieren auf logischer Stringenz der ethischen Argumentation mit einem solchen Ansatz zufrieden geben, ob der Ansatz der Autorin bei denen, die eine Entscheidung über die Art der Behandlung oder ein Nichtbehandeln fällen müssen - seien es die Ärzte oder die Eltern oder auch Gerichte - nicht deren Ratlosigkeit durch das Angebot eines Mosaiks ethischer Aspekte - vielleicht auch noch sehr heterogener Art - noch vermehrt, ob sie dann nicht doch auf die Logik der Argumentation der von der Autorin kritisierten utilitaristischen Philosophen zurückgreifen, deren Anspruch auf Rationalität und Universalisierbarkeit ethischer Aussagen die Autorin zu Recht nicht teilt.

Dessen ungeachtet bringt die Vfn. vom theologischen Hintergrund her einige bedenkenswerte Gesichtspunkte ein. Sie zeigt, wie gerade bei behindert geborenen Kindern die Argumentation von der "Binnenperspektive" der Kinder her, also ihrem vom Standpunkt der "Gesunden" aus gemutmaßten Leiden an der Behinderung und dem für sie selbst aufgrund ihrer mangelnden "Lebensqualität" angeblich "lebensunwerten" Leben versagen muß. Dann wird Behinderung nur von den Defiziten des Lebens her erfaßt. Dagegen betont die Autorin die von Behinderten und Behindertenpädagogen - teils mit Bezug auf E. Levinas - herausgearbeitete "Ethik der Fremdheit" (363-366), die den andern als anderen wahrnimmt und anerkennt, sein "Anderseins" nicht an ihm fremden Wertmaßstäben mißt und ihm dann auf dieser Basis das "Lebensrecht" abspricht.

Auf diesem Hintergrund kommt sie auch zu einer kritischen Würdigung des von utilitaristischen Ethikern vehement abgelehnten und des "Vitalismus" bezichtigten Postulats der "Heiligkeit des Lebens" und der damit verbundenen Forderung nach "Ehrfurcht vor dem Leben". Damit werde keine konkrete Handlungsanweisung gegeben, vielmehr sei das Postulat der "Heiligkeit des Lebens" als "mythischer Leitsatz" zu verstehen. Er besage, daß "die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens letztlich in etwas dem menschlichen Sein Übergeordneten und Entzogenen verankert bleibt" (357). Dieser Satz bedürfe der Konkretionen und Applikationen in verschiedenen Handlungszusammenhängen, doch seien alle Entscheidungen über Behandlungen bei Neugeborenen "an diesen Grundsatz rückzubinden und Abweichungen, die dadurch nicht ausgeschlossen sind, geraten in einen Begründungszusammenhang" (359). Dies besagt also zugleich zumindest, daß die Fürsorge für behinderte Neugeborene und die Bewahrung ihres Lebens mittels medizinischer Behandlungen Vorrang vor dem Sterbenlassen hat.

Trotz dieser, zu weiterem Nachdenken hilfreichen Anregungen besteht das eigentliche Verdienst dieser Arbeit in der umfassenden Darstellung der gesamten medizinischen, humanwissenschaftlichen, juristischen und ethischen Diskussion dieser schwierigen Thematik, einschließlich eigener empirischer Befragungen, die geradezu herausfordern, zu einem annähernden Konsens in der ethischen Urteilsbildung zu finden, der den Rahmen ausfüllt, der in den neuen "Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung" gesteckt ist.