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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

592-594

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Mtata, Kenneth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion: Hilfe oder Hemmnis für Entwicklung?

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 275 S. = LBW-Dokumentation, 58. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03893-0.

Rezensent:

Uta Andrée

Ist Religion Hilfe oder Hemmnis für Entwicklung? – Mit dieser Frage beschäftigte sich eine internationale Konferenz im Oktober 2012, die der Lutherische Weltbund (LWB) gemeinsam mit dem Missions- und Entwicklungswerk der Bayerischen Landeskirche Mission EineWelt in Neuendettelsau veranstaltet hat. Mit dem vorliegenden Band wird diese Zusammenkunft der 70 Expertinnen und Experten aus allen Regionen der Welt dokumentiert.
Auf 275 Seiten geht es um den Einfluss von Religion auf Entwicklung, 20 Autorinnen und Autoren setzen mehr oder weniger explizit und mehr oder weniger konkret Religion und Entwicklung aus ihrer kontextuellen Perspektive in Beziehung.
Dabei könnte man Antworten erwarten, die sich auf folgender Skala bewegen: Religion (be)hindert Entwicklung, trotz Religion ist Entwicklung möglich, Religion hat weder positiven noch negativen Einfluss auf Entwicklung, Religion kann positiv auf Entwicklung einwirken, Religion ist ein wichtiger Faktor für Entwicklung. Fest steht bei aller Unterschiedlichkeit der Bewertung der gegenseitigen Bedingtheit und Angewiesenheit von Religion und Entwicklung, dass der Faktor Religion nicht unterschätzt oder ausgeblendet werden darf, wenn Projekte und Initiativen im Bereich von Friedensbildung, Advocacy, Menschenrechtsarbeit, Nachhaltigkeitsprogrammen etc. gelingen sollen. Kenneth Mtata, aus Südafrika und derzeit Studienreferent für lutherische Theologie und Praxis in der Abteilung für Theologie und öffentliches Zeugnis des Lutherischen Weltbundes, der den vorliegenden Band herausgegeben hat, hält in seinem einleitenden Statement fest: »Da die Präsenz von Religion nicht geleugnet werden kann, ist es unbedingt notwendig, dass diejenigen, die sich mit der Entwicklungsfrage beschäftigen und/oder in diesem Bereich praktisch tätig sind, die möglichen Auswirkungen der Religion auf ihre Arbeit untersuchen.«
Dabei ist das Anliegen der Beiträge in diesem Buch nicht nur deskriptiv, sondern hat eine prägende und handlungsleitende Funktion. Kenneth Mtata formuliert dazu im Vorfeld eine Kernfrage der Konferenz: »Siebzig bis achtzig Prozent der Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik – wo der Großteil der Entwicklungsarbeit geleistet wird – gehören Religionen an und sehen die Welt mit religiösen Augen. Wie können wir in einer solchen Situation sicherstellen, dass Religion nicht ein Hindernis darstellt, sondern einen Beitrag zur Entwicklung leistet?« (https://de. lutheranworld.org/de/content/lwb-konferenz-zur-be­ziehung-zwischen-religion-und-entwicklung-21, abgerufen am 11.12.2015)
Beide – sowohl Religion als auch Entwicklung – werden von vielen Autorinnen und Autoren kritisch in ihrer Ambivalenz be­wertet. Vor allem das herkömmliche Entwicklungsparadigma scheint für kaum einen/eine ungebrochen akzeptabel bzw. an­wendbar, zumal es in vielen Augen »ein ganz klar »westliches« Unterfangen (ist), das die wirtschaftliche und soziale Dominanz des Westens begünstigt und der politischen Agenda der westlichen Länder dient«, wie Eberhard Hitzler in seiner Einführung festhält (16).
Exemplarisch möchte ich drei Beiträge besonders hervorheben: von Vitor Westhelle von der Lutherischen Kirche in Brasilien (IECLB), von Muriel Orevillo-Montenegro, feministische Theologin von den Philippinen, und von Johnson Mbillah, Leiter des Programms PROCMURA (Programme for Christian-Muslim Relations in Africa) mit Sitz in Nairobi.
Vitor Westhelle stellt die Debatte um Religion und Entwicklung in das Licht der Theologie Martin Luthers. Das Christentum hat zu entwicklungsrelevanten Fragen eigenes beizutragen, beispiels-weise die Verurteilung von Wucher, wie er im Anschluss an Luther formuliert. Die Ausbeutung der einen zur Bereicherung der anderen »zerstört die Würde der Arbeit« und konfrontiert uns mit Gottes Zorn, den Westhelle »die Realität des Abgrunds des deus nudus« nennt (49). Die Theologie Luthers, die Westhelle wunderbar darstellt und mit gegenwärtigen Debatten ins Gespräch bringt, schillert zwischen Apokalyptik und Ethik. Sie kann von daher klare Urteile über die Förderung und Erhaltung des Lebens fällen und zugleich die Vorläufigkeit aller Bemühungen um Frieden und Entwicklung festhalten.
Bei Murielle Orevillo-Montenegro hören wir eine ähnliche Tonlage. Hier ist die theologische in eine ideologische Urteilskraft gewendet. Anknüpfend an Webers Protestantismus Analyse hält Orevillo Montenegro, dass der Kapitalismus als Religion sein zerstörerisches Potential voll entfaltet hat. Sie zeichnet dann ein Gegenmodell, das auf eine alternative Globalisierung baut, die interreligiöse Zusammenarbeit und eine neue Spiritualität stark macht und eine Ökonomie des Lebens entwirft. Ihre Vision entfaltet dabei allerdings nicht dieselbe Kraft, mit der sie das Bild der desaströsen gegenwärtigen Lage beschreibt.
Johnson Mbillah bewertet die Rolle von Religion in seinem Kontext auf dem Hintergrund seiner reichen Erfahrungen in der Begegnung von Christen und Muslimen. Ein Problem ist die Universalität, die sowohl das Christentum als auch der Islam beanspruchen, wenn die einen von der Umma (der Summe der Glaubenstraditionen der Muslime) und die anderen von Christus behaupten: Hier »gibt es keinen Osten, keinen Westen, keinen Norden, keinen Süden, kein Weiß, kein Schwarz usw« (177). Damit verbindet sich nach Mbillah eine negative Solidarität, die eher festhält, dass »wir Christinnen und Christen und Musliminnen und Muslime sind, die zufällig Menschen sind,« als dass »wir Menschen sind, die zufällig christlichen oder muslimischen Glaubens sind« (179). Mit seinem Ruf »Wir müssen Konflikte entglobalisieren!« wagt Mbillah zwar nicht die Aussage, dass Religion ein Entwicklungshemmnis sei, aber er benennt klar die Gefahr von Religion, die allein identitätsbestimmend wird.
Die weiteren Beiträge stammen von Andreas Heuser, Karel Th. August, Michael Biehl, Theresa Carino, Samuel Ngun Ling und Madipoane Masenya. Drei Praxisbeispiele aus Costa Rica, Simbabwe und Liberia schließen sich an. Rebecca Larson und Claudia Warning stellen abschließend institutionelle Überlegungen an. Hinzuweisen ist schließlich noch auf interessante Überlegungen von Kjell Nordstokke zur Typologie verschiedener Organisationen, die aus dem Glauben heraus handeln (den sogenannten Faith Based Organisations – FBOs).
Die redaktionelle Gestaltung des Bandes ist leider nicht in jeder Hinsicht befriedigend. Nicht nur die Tatsche, dass durchgehend auf die Verwendung des Buchstaben »ß« verzichtet wurde, sondern auch die zahlreichen Druckfehler schmälern die Lesefreude. Außerdem wären biographische Information zu den Autorinnen und Autoren zum Verständnis der einzelnen Beiträge hilfreich gewesen. Das Buch ist im Übrigen zeitgleich auch auf Englisch unter dem Titel »Religion: Help or Hindrance to Development?« erschienen. Für den des Englischen mächtigen Leser ist diese Ausgabe sicherlich die bessere Quelle.