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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

590-592

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hüttenhoff, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christliches Europa? Studien zu einem umstrittenen Konzept.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 200 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03917-3.

Rezensent:

Reinhold Bernhardt

Die Gleichzeitigkeit zweier Entwicklungen – die Multikulturalisierung der europäischen Gesellschaften und der Prozess der europäischen Integration – fordert zur Besinnung auf die kulturelle Identität Europas heraus. Es geht dabei nicht nur um die retrospektive Beschreibung historisch gewachsener Selbstverständnisse, sondern immer auch um normative Bestimmung der »Seele Europas«. Initiativen wie diese (http://www.asoulforeurope.eu/) gehen von der Notwendigkeit aus, der Europäischen Union ein kulturelles Identitätsfundament zu geben. Welche Bedeutung kommt dabei dem Christentum bzw. der christlichen Tradition zu? Das ist die Leitfrage dieses Bandes, der aus einer Ringvorlesung der Universität des Saarlandes im Rahmen des von ihr gepflegten Europa-Schwerpunktes hervorgegangen ist. Fünf Dozierende dieser Universität und drei auswärtige Referenten beleuchten das Thema in historischen und systematischen Perspektiven. Auch der konfessionellen Verschiedenheit wird dabei Rechnung getragen.
In Auswertung der Zeitschriften »Europäische Revue« und »Abendland« zeichnet Lucia Scherzberg nach, wie katholische Intellektuelle in den 20er und 30er Jahren des 20. Jh.s die Idee des christlichen Abendlandes aufgegriffen und zum Gestaltprinzip einer neuen Ordnung in der Ordnungslosigkeit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erhoben haben. Dass sich dieses Konzept und das von Romano Guardini ausgerufene Programm einer Rechristianisierung Europas im Protestantismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durchsetzen konnten, zeigt Michael Hüttenhoff. Besonders im Umkreis von Karl Barth wurde die Verbindung von Abendland und christlichem Glauben problematisiert und einer Funktionalisierung und Ideologisierung dieses Glaubens entgegengetreten. Roland Marti ruft in Erinnerung, dass Europa nicht nur aus der germanischen und romanischen, sondern auch aus der slawischen und griechischen Welt, nicht nur aus dem katholischen und evangelischen, sondern auch aus dem orthodoxen Christentum besteht. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht beschreibt Rainer Hudemann, wie das Konzept des christlichen Abendlandes um die Mitte der 1950er Jahre weitgehend diskreditiert wurde. Als Plattform für eine europäische Identitätsbildung hätte es sich ohnehin nicht geeignet, weil es vor allem im deutschen und österreichischen Kulturraum von Bedeutung war.
Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit dem Verhältnis des Islam zu Europa. Einen Einblick in die abschätzige Wahrnehmung Europas und der Europäer aus muslimischer Sicht im Mittelalter bietet Peter Thorau und liefert damit eine instruk-tive Fallstudie zur Bildung eigener Identität durch stereotypisierende Wahrnehmung des kulturell und religiös Anderen. Die in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart entwickelten Konzepte eines europäischen Islam skizziert Hansjörg Schmid. An der Bildung von islamischen Organisationen, dem Entstehen einer islamischen Theologie und an den Programmschriften Bassam Tibis und Tariq Ramadans zeigt er, wie sich der Islam im europäischen Haus ein- und ausrichtet und sich in Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne transformiert.
Karlo Meyer vergleicht die rechtliche Einbettung des Religionsunterrichts in Spanien, Norwegen, England und Bremen mit-einander und spricht sich dafür aus, die Etablierung dieses Un-terrichts nicht – wie in Bremen – allein den Schulen selbst zu überlassen, sondern sie durch Religionsgemeinschaften und ge-gebenenfalls durch andere daran interessierte gesellschaftliche Gruppen institutionell abzustützen.
Es lohnt sich, den Band zu Ende zu lesen, denn die beiden letzten Beiträge bieten informative und inspirierende Beiträge zur Bedeutung der Religion für Europa (Clemens Albrecht) sowie zur Frage, worin das spezifisch Europäische besteht und in welchem Sinn von Europa als von einer Wertegemeinschaft gesprochen werden kann (Richard Schröder). Albrecht vertritt die anregende These, dass die gegenwärtige europäische Einigungsbewegung keine Religion brauche, weil sie heilsgeschichtlich aufgeladen und damit selbst Religion sei. In den verschiedenen Streberichtungen der »Gesinnungs-« und der »Verantwortungseuropäer« folgt sie quasi-religiösen Motivationen. Solange diese aber nicht in konkrete Sozialfiguren umgesetzt werden, bleibt Europa eine Idee, die zudem »strukturell antidemokratisch« (166) ist.
Bedauerlich ist, dass der vorgesehene Beitrag zur Ausprägung der Idee des christlichen Abendlandes in der deutschen Romantik nicht in den Band aufgenommen werden konnte. Damit fehlt ein wesentlicher Baustein in der Rekonstruktion der Geschichte dieser Idee. Novalis und Friedrich Schlegel hatten sich gegenüber dem Laizismus der Französischen Revolution dafür ausgesprochen, dem Staat ein christliches Wertefundament zu geben und so die religiös-kulturelle Substanz des Abendlandes restaurativ zu sichern. Damit verband sich eine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. In ihrer weiteren Ideengeschichte bleibt die Rede vom christlichen Abendland dem politischen Konservativismus verhaftet. Es ist das Verdienst dieses Bandes, implizit und explizit davor zu warnen, Europa eine anima christiana (naturaliter) zuzuschreiben.