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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

555-557

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Karle, Isolde [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009 (22011). 311 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 41. Geb. EUR 20,00. ISBN 978-3-374-02736-1.

Rezensent:

Maike Schult

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Becker, Patrick, u. Ursula Diewald [Hrsg.]: Die Zukunft von Religion und Kirche in Deutschland. Perspektiven und Prognosen. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. 223 S. m. Abb. Kart. EUR 16,99. ISBN 978-3-451-33299-9.


Kirchentheorie hat Konjunktur. Seit der Kieler Theologe R. Preul 1997 als Erster eine »Kirchentheorie« vorgelegt und dem Fach seine Bezeichnung gegeben hat, hat sich das Interesse von der Dogmatik auf die Praktische Theologie verlagert und die Kirchentheorie hier als neue »Grundtheorie« (J. Cornelius-Bundschuh) und »Leitdisziplin« (D. Plüss) etabliert. Die Frage nach der Zukunft der Kirche hat einen Diskurs in Gang gesetzt, der sich als forschungsproduktiv erweist und über den akademischen Betrieb hinausreicht. Neben Aufsätzen und Impulspapieren sind mehrere Monographien entstanden. Sie verschlagworten das komplexe Gebiet und themati-sieren Kirchenräume in Ost und West, Stadt und Land, parochial und funktional, organisatorisch, symbolisch, ästhetisch, prognos­tizieren Mitgliederschwund und Wachstumschancen, verhandeln Marketing und Gegenwelt, »Kirche der Freiheit« und »Fremde Heimat Kirche«, »Volkskirche im Übergang« ( K. Fechtner) und »Kirche bei Gelegenheit« (M. Nüchtern), Religionspluralität und Konfes-sionslosigkeit, Aufbruchsbemühen und »Reformstress« (I. Karle) als die Bewegungen und Beharrungskräfte, die »Kirche« bestimmen als eine Großorganisation im institutionellen Gefüge, die wie andere Träger der Optionsgesellschaft auch »kleiner, ärmer, älter« (Th. Schlag) wird und doch eine theologische Größe bleibt.
So beginnt das 21. Jh. trotz aller Abgesänge auf dem Gebiet der Kirchentheorie erstaunlich leistungsstark. Zwei Lehrbücher entstanden in rascher Folge (J. Hermelink: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, 2011, sowie E. Hauschildt/U. Pohl-Patalong: Kirche. Lehrbuch Praktische Theologie, 2013), und auch die Fachgruppe Praktische Theologie in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh) hat sich der Kirchentheorie gewidmet: Kirchentheorie. Praktisch-theologische Perspektiven auf die Kirche. hrsg. von B. Weyel und P. Bubmann, 2014. In diesen Forschungsfluss gehören die beiden zu besprechenden Sammelbände. Sie zeigen den Reichtum der Fragen bei abklingenden Kassen und suchen zusammenzustellen, was sich an Perspektiven einnehmen und an Prognosen wagen lässt, um die Problemlage in der evangelischen und katholischen Kirche transparenter zu machen.
Der erste Band ist bereits 2009 erschienen. Er wurde 2011 neu aufgelegt und ist als Sammelband bei der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen. Die Bochumer Theologin I. Karle, selbst einschlägig ausgewiesen auf diesem Gebiet, hat ihn herausgegeben und einleitend auf die Kirchenreformen und ihre Paradoxien (7–23) verwiesen: »Die evangelische Kirche in Deutschland befindet sich seit Jahrzehnten in einem Prozess der Selbstreflexion und Selbstkritik. Sie reagierte mit unterschiedlichen Reformansätzen auf sinkende Mitgliederzahlen, auf knapper werdende finanzielle Ressourcen und auf die immensen Herausforderungen, die sich mit der zunehmenden Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung in der Gesellschaft stellen. Es hat die evangelische Kirche immer ausgezeichnet, nicht einfach an Althergebrachtem festzuhalten, sondern kreativ und resonanzsensibel auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu reagieren, sich konstruktiv an veränderte soziale Umwelten anzupassen und nicht unirritierbar zu sein. Das ecclesia semper reformanda gehört insofern zum Selbstverständnis der evangelischen Kirche, die ihren eigenen Ursprung in einer äußerst breitenwirksamen Reform hat und sich daher prinzipiell zu Reformen ermutigt sieht.« (7) Dass dieses Prinzipielle in der konkreten Umsetzung weit weniger selbstverständlich ist als vom Selbstbild her gedacht, zeigt der von ihr vorgelegte Band. Er geht zurück auf ein interdisziplinäres Forschungssymposion, an dem die evangelische und katholische Theologie, die Soziologie, Religionswissenschaft und Ökonomie teilnahmen, um das Reformpapier der EKD »Kirche der Freiheit« (2006) als »Fundgrube« zu nutzen, »sich mit zentralen Fragen theologischer Dogmatik und kirch- licher Pragmatik in ekklesiologischem, praktisch-theologischem und sozialwissenschaftlichem Horizont zu befassen.« (9) Herausgekommen ist ein Buch mit 16 Beiträgen, in dem das Reformpapier nicht immer im Mittelpunkt steht, aber zu Forschungsfragen anregt. Es gliedert sich in fünf Teile.
Zunächst fragen B. Oberdorfer und M. Höfner unter der Überschrift »Geglaubte und empirische Kirche: Dogmatische Perspektiven« (25–55), »wie Kirche unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts und in Orientierung an ihren normativen Grundlagen zu verstehen ist.« (10) Der zweite Teil »Phänomenorientierte Perspektiven« (57–80) macht Probleme des Reformprozesses konkret, wenn Th. Erne nach der gesellschaftlichen Funktion von Kirchengebäuden fragt und C. Schulz mit Milieu und Geschlecht Exklusionsmechanismen der Kirche beleuchtet. Der dritte Teil »Chancen und Grenzen kirchenreformerischen Handelns« (81–175) bringt mit der zeitgeschichtlichen Perspektive (T. Jähnichen) eine wichtige Relativierung ein, zeigt am Beispiel der katholischen Kirche (H. Hafner), dass Kirchen zu unirritierbar und zu sensibel auf den Reformbedarf reagieren können, analysiert mit D. Pollack dezidiert, aber kritisch das Impulspapier der EKD, beschreibt mit J. Hermelink die Kirche als »Symbol des Unverfügbaren«, der er eine »produktive Unordnung« empfiehlt, und fragt schließlich, ob Management ein Mittel der Kirchenreform sein kann (C. Meyns). Der vierte Teil »Religion zwischen Interaktion und Organisation« (177–252) fragt im Anschluss an N. Luhmann, welche Perspektiven sich ergeben, wenn man Funktions-, Organisations- und Interaktionssysteme als eigenständige Systemtypen unterscheidet, und nimmt dafür pastorale Motivationsprobleme (I. Karle), die Unorganisierbarkeit von Glaubenserleben in der Organisation Kirche (A. Nassehi), die Bedeutung nicht-steuerbarer Kommunikation (M. Lehmann) und den Zusammenhang von Religion und Interaktion am Beispiel religiöser Bildung und Erziehung (G. Büttner) unter die Lupe. Der fünfte Teil schließlich beschreibt »Die Funktion der Kirche für die Gemeinde« (253–307) und will die Ressourcen der Ortsgemeinde neu erschließen (neutestamentlich M. Ebner; praktisch-theologisch W. Engemann; ökonomisch A. Henkel).
Damit ist bereits vieles umfänglich an- und ausgesprochen, was die gegenwärtige Lage der Kirchen betrifft, doch gelingt es P. Becker und U. Diewald in dem 2014 im katholischen Verlag Herder herausgegebenen zweiten Sammelband, der stärker nach der »Zukunft von Religion und Kirche in Deutschland« fragt, dem Diskurs noch einmal Neues zuzuspielen. 15 Autoren und Autorinnen, von denen nur I. Karle bereits im ersten Band vertreten ist, ergänzen diesen um wichtige Vergleiche mit der katholischen Kirche, dem Judentum und Islam und machen in vier grob gegliederten Teilen (Der Blick aufs Ganze; Strukturen im Blick; Spezifische Symptome im Blick und Die Jugend im Blick) viele feine Beobachtungen.
Das Buch ist gut verständlich und spannend zu lesen, kann die theoretischen Erwägungen anschaulich machen und erfrischend pointieren, etwa wenn die Journalistin C. Florin die sprachlichen Sünden der (katholischen) Kirche aufs Korn nimmt. So stehen beide Bände in ihrer Vielfalt und Offenheit für den kirchentheoretisch unabgeschlossenen Prozess und zeigen gerade im produktiven Nebeneinander ihre Beschreibungsleistung.