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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

940–942

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Junker-Kenny, Maureen

Titel/Untertitel:

Argumentationsethik und christliches Handeln. Eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 176 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 31. Kart. DM 49,80. ISBN 3-17-014879-6.

Rezensent:

Isolde Karle

Ziel der Habilitationsschrift von Maureen Junker-Kenny ist es, mit Hilfe der Diskurstheorie von Jürgen Habermas einen angemessenen Begriff christlich-kirchlicher Praxis zu gewinnen und Kriterien für ihre Beurteilung zu entwickeln (9, 17). Die Fragestellung ist insofern eher sozial-ethischer als praktisch-theologischer Natur. Dabei sollen insbesondere die Leitbegriffe der "Kritischen Theorie" wie Herrschaftsfreiheit und Intersubjektivität daraufhin geprüft werden, ob sie sich als Denkform für christliches Handeln eignen.

Im ersten Teil der Studie soll die Relevanz von Habermas’ Theorie für die Praktische Theologie dargestellt werden. Da die Praktische Theologie auf das Gegenüber gesellschaftlicher Praxis bezogen sei, müsse sie mit Hilfe der Sozialwissenschaften die Gegenwartsgesellschaft analysieren (17 ff., 26 ff.) und dazu biete sich die Habermassche Theorie an. Doch diese Lösung erweist sich als nicht unproblematisch. So zeige die Geschichte der praktisch-theologischen Rezeption der Diskurstheorie, daß diese nicht selten "selbstdestruktiv" (59) für die Theologie verlief. Aus der Darstellung der Autorin geht hervor, daß die Praktische Theologie, beeindruckt vom Freiheitspathos der Diskurstheorie und ihrem Anspruch, "kritisch" zu sein, allzuoft die von Habermas geforderte Ablösung der Religion durch die kommunikative oder emanzipatorische Vernunft unkritisch übernommen und in ihre Konzeptionen von Kirche (F. Schüssler Fiorenza) oder Praktischer Theologie (G. Otto) umgesetzt hat. N. Greinacher versuche zwar, lediglich die praktischen Ziele der Diskurstheorie zu übernehmen, blende dabei aber die theoretischen Probleme aus (63).

Stimmt schon die Darstellung der praktisch-theologischen Rezeption der "Kritischen Theorie" skeptisch im Hinblick darauf, mit ihrer Hilfe eine angemessene Denkform christlich-kirchlicher Praxis zu gewinnen, werden diese Zweifel durch die in einem zweiten Teil ausgeführte bewußtseinsphilosophische Kritik an Habermas nachhaltig verstärkt. Die Kritik zeigt, daß Habermas’ Grundbegriffe äußerst vage, reduktionistisch und unscharf sind. Dies gilt inbesondere für den Begriff der Lebenswelt (48, 67, 72, 81, 85 f.), aber auch den der Intersubjektivität (75 ff., 153 f.), eine Verlegenheitsformel, mit der Habermas am Subjekt festhalten will, ohne am Subjekt festzuhalten. Die Frage nach einer angemessenen Bestimmung von Individualität und Sozialität bleibe deshalb (79). J.-K. kritisiert darüber hinaus, daß die Diskurstheorie die Realität des Bösen, des Konfliktes, des Dissenses weitgehend ausblende und radikal unterschätze (128 ff.). Die Autorin kommt schließlich zu dem ernüchternden Schluß, daß Habermas’ Theorie "keine Denkform für den gesuchten Begriff christlicher Praxis bieten" (156) könne.

Auf dem Hintergrund dieser Kritik erstaunt es, wie sehr die Autorin betont, daß sie lediglich eine immanente Kritik (13) an Habermas vorlegen wolle, die nur Einzelheiten seiner Durchführung, nicht aber Intention und Programm seiner Theorie beträfen. Die vielfache Würdigung von Habermas’ Werk und die Betonung seiner Bedeutung für die Praktische Theologie (13, 93f., 138, 152) werden nicht plausibel. Immer wieder fragt man sich, worin der Erkenntnisfortschritt (93) der Diskurstheorie eigentlich bestehen soll, wenn die theoretischen Grundentscheidungen selbst von der der Autorin eigenen bewußtseinsphilosophischen Perspektive so fundamental zu kritisieren sind - von einer systemtheoretischen Perspektive ganz zu schweigen.

Es drängt sich der Verdacht auf, daß Habermas’ Theorie trotz vielfältiger philosophischer und theologischer Bedenken in Kauf genommen wird, um mit ihm das viel beschworene "Projekt der Moderne" (82, 146) und damit zugleich die Funktion der Philosophie als "Hüter der Rationalität" (103, 113, 154) zu "retten". An vielen Stellen taucht in diesem Zusammenhang eine für den Gesamtduktus verblüffende emotionale Kampf- und Kriegssemantik auf, die sich gegen "die Postmodernen" richtet, die dieses Projekt gefährdeten (vielfach ist von "verteidigen", von "Feldzug" und "Front halten", von "retten", "Rettung", "Bündnispartnern" usw. die Rede). Dabei wird nicht einmal angedeutet, was mit dem schillernden Begriff der Postmoderne eigentlich gemeint ist - sie gilt der Autorin schlicht als irrational (13), als eine Bewegung, die Subjekt und Vernunft negiere (153 f., 75, 94, 113) und damit nur als bedrohlicher Hintergrund. Vor diesem vermeintlich dunklen Horizont hebt sich für die Autorin Habermas’ Insistieren auf Kritik, auf (immerhin) Inter-Subjektivität, auf universalistische Fragestellungen, auf Autonomie und Mündigkeit positiv ab, obwohl seine Theorie nicht in der Lage ist, das von der Autorin anvisierte Problem zu lösen - nämlich einen für gläubige Praxis offenen philosophischen Handlungsbegriff zu entwickeln, der Raum läßt für "die Kennzeichen christlichen Handelns" (157ff). und sich nicht mit der naiven Gegenüberstellung von Autonomie und Tradition begnügt.

J.-K. schließt zutreffend: Ein Denken wie das von Habermas, "das durch die Entgegensetzung von normativer Moderne und Tradition gekennzeichnet ist" (161) bleibe dem christlichen Selbstverständnis fremd, es erlaube "kein angemessenes Verständnis symbolischer Wirklichkeit" (161) und verstelle mit ihrer subjektivistischen Engführung den Blick für die gemeinschaftsstiftende Kraft ritueller Praxis (162). Religion und Kir-che gelten ihm lediglich als "Anachronismus" und als "durchschaute Illusion" (65). Trifft dieses Resümée J.-K.s zu, wird es höchste Zeit, sich von der Diskursphilosophie zu verabschieden und der Praktischen Theologie das Gespräch mit anderen, komplexeren Theorien anzuempfehlen, die eine realistischere Gesellschaftsanalyse ermöglichen und die Funktion religiöser Kommunikation und Praxis deutlich zutreffender einzuschätzen wissen. Dann wird sich zeigen, daß mancher von J.-K. als "postmodern" verfemte Entwurf - wie die Philosophie von E. Levinas oder die Systemtheorie von N. Luhmann - deutlich adäquatere Denkformen für eine christlich-kirchliche Praxis zur Verfügung stellt und sich damit als besserer "Bündnispartner" (88) für die Anliegen J.-K.s erweisen könnte.