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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

547-549

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mack, Elke

Titel/Untertitel:

Eine Christliche Theorie der Gerechtigkeit.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2015. 232 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-8487-1975-4.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Elke Mack konstatiert, das Ideal der Gerechtigkeit sei zu einem zentralen Leitmotiv sowohl der politischen Debatten in pluralistischen Gesellschaften als auch der wissenschaftlichen Ethik geworden. Die christliche Ethik habe sich seit Jahrhunderten mit der Kardinaltugend der Gerechtigkeit befasst, sie jedoch vor allem durch metaphysische Reflexion zu begründen versucht und moralische Normen aus materialen Prinzipien deduziert. Im heutigen, post-metaphysischen Zeitalter reiche das nicht mehr aus, um gehört zu werden und wirksam zu sein. Darum sei ein Perspektivenwechsel geboten, der Eine Christliche Theorie der Gerechtigkeit zu entwi-ckeln helfe und mittels einer »demokratietheoretischen Wende« eine »hermeneutische Rückanpassung« der theologischen Ethik an moderne Gerechtigkeitstheorien bewirke, was verspreche, dass christliche Ethik sowohl im Wissenschaftsdiskurs als auch in der eigenen Glaubensgemeinschaft wieder stärker rezipiert werde und ihr christliches Proprium womöglich erst ganz entfalte.
Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert. Im ersten wird »Erhöhter Gerechtigkeitsbedarf pluraler Gesellschaften weltweit« konstatiert, den die mit der Globalisierung zunehmende Kenntnis aller Menschen von den Lebensbedingungen der anderen und die wachsende weltweite Interdependenz und Wechselwirksamkeit allen menschlichen Handelns und Unterlassens bewirke. Erhöhter Gerechtigkeitsbedarf bedeute weder einheitliches Gerechtigkeitsempfinden noch gleiche Anspruchniveaus, aber bei allen regio-nalen, kulturellen und subjektiven Niveauunterschieden im Ge- rechtigkeitsanspruch herrsche doch »weltweit Einigkeit über wesentliche Gerechtigkeitsdefizite angesichts von gravierenden De­privationen, Würdeverletzungen und Ungleichheiten.«
Das zweite Kapitel ist überschrieben mit »Die Moraltheorie einer christlichen Gerechtigkeitsethik« und plädiert dafür, in ihr die »Schutzbedürftigkeit eines jeden Menschen« in den Mittelpunkt zu stellen und mit der Forderung nach einer »Zustimmung aller Betroffenen« diese selbst zum »Souverän der Ethik« zu machen und so die »demokratietheoretische Wende« moderner Gerechtigkeitstheorien hin zum qualifizierten Konsens nachzuvollziehen. Methodisch solle die christliche Ethik eine »klare methodische Trennlinie zwischen Rechtsethik und Werteethik« ziehen, um einerseits zu verbindlichen Gerechtigkeits geboten zu gelangen, die im allgemeinen Gerechtigkeitsdialog ohne christliche Glaubensvoraussetzungen anschlussfähig seien, und um andererseits einen Wert- und Tugendbereich zu gewinnen und zu bewahren, der »Ethik als Angebot« (Hervorhebung H.-J. W.) formuliere, »die einen gewissen weichen Verbindlichkeitscharakter innerhalb der gläubigen Gemeinschaft für sich in Anspruch nehmen darf.« Methodologisch plädiert die Vfn. für einen Dreischritt aus 1. empirischer Problemanalyse des ethisch zu ordnenden Lebensbereichs, begleitet von einer theologisch-hermeneutischen Vergewisserung über das zu lösende Problem; 2. der Bildung einer normativen Theorie, das heiße der Begründung einer universalen, pluralismusfähigen Norm, was allein die Menschen als Subjekte moralischer Normen ernst nehme und also eine »fundamentale Umkehrung, weg vom objektiven Beobachter oder quasi-neutralen Wissenschaftler, hin zu den eigentlichen Adressaten der Moral« und zur »Neujustierung im Individuum als Subjekt der Moral« bedeute, in Einklang mit modernen Diskursethiken, Gerechtigkeitsethiken und politischen Philosophien des demokratischen Zeitalters. 3. Dritter Schritt der neuen Methode sei die »Operationalisierung«, das heißt ein »Praxistest«, der die Funktion habe, »eine lebbare und realisierbare Ethik zu garantieren«, und der es nötig mache, »die Umsetzung von Moral bereits während der Normbegründung mit zu bedenken.«
Im dritten, umfangreichsten Kapitel geht es um eine »globale und universale christliche Gerechtigkeitstheorie«. Es wirkt am »welthaltigsten«, weil viele vertraute weltpolitische, völkerrechtliche, politikwissenschaftliche und ethische Daten und Debatten zu Themen wie der Bekämpfung von Armut, Not und Exklusion, zum Nord-Süd-Ausgleich und zu der Frage zusammengeführt werden, ob Solidaritätspflichten allein zwischen Staaten und Nationen oder auch von Mensch zu Mensch, zum Nächsten und Fernsten, be­gründet werden können. Als »zentrale Beiträge der theologischen Sozialethik« zu diesen Debatten werden »die auf der Basis des christlichen Personalitätsverständnis beruhenden hermeneutischen Konzepte der Menschenwürde, der universellen Einheit und Gleichrangigkeit aller Menschen sowie der genuin christlichen ›Option für die Armen‹« herausgearbeitet.
Das vierte, kürzeste Kapitel behandelt »Kernelemente einer Christlichen Theorie der Gerechtigkeit« und legt dar, es seien die »dogmatischen Glaubenswahrheiten der Inkarnation und der Schöpfung […] die eigentlichen Gründe für einen notwendigen Paradigmenwechsel in der christlichen Ethik«, der »die Menschen und insbesondere die Betroffenen zu den eigentlichen Subjekten der Moralbegründung macht.« Die Inkarnation bedeute nämlich die Identifikation Gottes »mit den am meisten Benachteiligten der Welt«, vor allem »den Leidenden und den Armen«, und sie bedeute im Verhältnis Gottes zu den Menschen seine »nicht endende, unbegrenzte Bejahung ihrer Fähigkeiten und menschlichen Eigenschaften sowie die Anerkennung des Menschen und seiner Wahrheitsfähigkeit an sich. Wir dürfen also durchaus den von Gott geliebten Menschen selbst die Begründung von Normen in personalen wie sozialen Kontexten zutrauen.« Die theologische Einsicht, dass Jesus gerade die Exkludierten habe zu Wort kommen lassen, »fordert die endgültige Abkehr vom Paternalismus in der theologischen Ethik« und spreche für das Konsens- und Vertragsparadigma einer künftigen globalen Gerechtigkeitsordnung.
Das Buch dürfte seiner Leserschaft einiges abverlangen. Das vierte Kapitel hätte detaillierter ausfallen dürfen und vielleicht weiter nach vorne gerückt werden sollen; während das dritte vieles bringt, was schon aus anderen, nicht spezifisch christlich grundierten Untersuchungen bekannt ist. Man darf gespannt darauf sein, ob und wie Vertreter der »klassischen« christlichen Ethik auf »Eine Christliche Theorie der Gerechtigkeit« antworten werden.