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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

542-544

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wahle, Stephan

Titel/Untertitel:

Das Fest der Menschwerdung. Weihnachten in Glaube, Kultur und Gesellschaft.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2015. 432 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 39,99. ISBN 978-3-451-34800-6.

Rezensent:

Reiner Marquard

Das Buch von Stephan Wahle ist die überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift bei Helmut Hoping (Freiburg) und Benedikt Kranemann (Erfurt), auf deren Grundlage dem Vf. durch die Universität Freiburg 2014 die Venia legendi für das Fachgebiet Liturgiewissenschaft verliehen wurde. Es eröffnet mit einer methodischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hinführung (Liturgie und Glaube, Kultur und Gesellschaft), die die Liturgiewissenschaft im konstitutiven Ineinander historischer, kulturwissenschaftlicher, systematisch- und praktisch-theologischer Perspektiven als »Grenzgängerin zwischen den theologischen Disziplinen« (Benedikt Kranemann) verortet. Katholische Liturgiewissenschaft schenkt in einem solchen Selbstverständnis natürlich weiterhin vorrangig den biblischen, patristischen und frühen liturgischen Texten, den lehramtlichen Dokumenten und theologischen Entwürfen der Gegenwart und dem Messbuch ihre besondere Aufmerksamkeit, doch es treten eben auch Erfahrungsberichte aus der pastoralen Praxis und kulturgeschichtliche Quellen hinzu sowie »diverse deskriptive Quellen und Ego-Dokumente« und Lieder und Gesänge. So nimmt das Buch seinen Weg über zehn Stationen, die in drei Abschnitte aufgeteilt sind: Biblische und historische Grundlagen des Weihnachtsfestes (Die Geburt Jesu Christi in der Heiligen Schrift; Die Entstehung der Geburtsfeste Jesu Christi; Die Entwicklung des Weihnachtsfestkreises); Theologie und Liturgie des Weihnachtsfestes (Weihnachten als Feier des Pascha-Mysteriums Jesu Christi; Die Feier der Menschwerdung in der Liturgie; Heute an Weihnachten Gottesdienst feiern); Das Weihnachtsfest in Kultur und Gesellschaft (Weihnachtskultur und Brauchtum; Der Heiligabend als Familien- und Kindheitsritual; Glaubenserfahrung im Spiegel der Weihnachtslieder).
Bei der Entstehung des Weihnachtsfestes sind Einflüsse zeitgenössischer Frömmigkeit (ausgerichtet an der Sonne und der Win-tersonnenwende) wie auch innerkirchliche Auseinandersetzungen (Lehre von der Gottheit und Menschheit Christi) ursächlicher wirksam als der Verweis auf das Geburtsfest des natale solis invicti, das der Vf. mehr als eine Parallelerscheinung deutet. Aus der ursprünglichen Weihnachtsmesse am 25. Dezember entwickelt sich eine Stationsliturgie mit den drei Weihnachtsmessen (Nacht, Morgenfrühe, Tag), die westlich (Inkarnation) und östlich (Epiphanie) unterschiedliche Ausprägungen annahm und im Laufe der Spätantike und des Frühmittelalters aus beiden Ursprungsfesten (25. Dezember/6. Januar) einen Festkreis bildete (138), wobei »Inkarnation und Epiphanie als Ausgliederung des Pascha Christi in einen kosmisch-heilsgeschichtlich motivierten Zyklus« (106) erscheinen. In der Konzentration auf den Begriff »Pascha« und die Rezeption dieses Begriffes liegt das besondere Verdienst dieses Buches darin, »auch die lang verbreitete Israelvergessenheit christlicher Liturgietheologie zu überwinden helfen« (158). Insofern repräsentiert Weihnachten das Pascha-Mysterium Jesu Christi als Vorwegnahme der ewigen Vollendung im Modus der Inkarnation und feiert »die Befreiung zur Menschwerdung des Menschen« (200), die nicht losgelöst von Gottes Heilsgeschichte mit seinem Volk Israel verstanden werden kann.
So sehr Weihnachten »der Gefahr des verzweckten Konsumismus ausgesetzt ist« (297), so sehr ist doch dieses Fest wie kein anderes getragen von einer Hoffnung und Sehnsucht auf eine bessere Welt. So unbestimmt diese Sehnsucht ist, so sehr findet sie doch ihr Widerlager in der inkarnationstheologischen Verankerung der Weihnacht im Pascha-Mysterium, die sich auch und gerade eindrucksvoll in den Weihnachtsliedern widerspiegelt. Die Weihnachtsgottesdienste sind gut besucht. Liturgisch stellt sich die Aufgabe, das Fest »mit heutiger Lebenswelt« zusammenzubringen (224). In diesem geradezu ökumenischen (204 ff.) Anliegen steckt nicht die Erlaubnis zu billigen Kompromissen mit Erwartungshaltungen, die an Stimmungen und nicht an Haltung interessiert sind, sondern das jeweilige liturgische Programm orientiert sich am »Festgeheimnis« (206). Dabei bleiben kulturelle und quasi-religiöse Begleiterscheinungen nicht aus. Sie sind nicht in jedem Fall Konkurrenten der Feier, sondern ebenso Transporteure einer Sehnsucht, die nicht zu verunglimpfen ist, sondern wirken umgekehrt auf die Feiergestalt der Gottesdienste ein (275.297).
Im ökumenischen Gespräch befindet sich der Vf. leider vorrangig mit einem evangelischen (theologischen) Journalisten, der zum Weihnachtsfest offensichtlich reichlich publiziert hat. Bei einer Auseinandersetzung mit der Verortung der Weihnacht in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik (Die Lehre vom Wort Gottes - KD I/2) hätte dem Begriff des Geheimnisses z. B. der Jungfrauengeburt noch einmal anders nachgespürt werden können. Das Zeichen muss dem, was es bezeichnet, noetisch und ontisch entsprechen. Dann aber gehört das Dogma von der Jungfrauengeburt ganz auf die Seite Gottes. Die Kirche und ihre Liturgie selbst stehen nicht in diesem Geheimnis, sie verweisen darauf – so erschließt sich ihm auch der Isenheimer Altar, der nicht »etwa 1506–1515«, sondern 1513/15 entstanden ist (167).
Das Buch versteht sich als Handbuch und möchte sich nicht auf den akademischen »Binnendiskurs« beschränken (14). Fremdsprachige Texte werden in der Regel in deutscher Sprache zitiert, biblische Zitate sind der Einheitsübersetzung entnommen. »Aufbau, Form und Sprache, die überschaubare Länge der zehn Einzelkapitel sowie die Auswahl der Quellen resultieren insgesamt aus dem Bestreben, mit diesem Buch weniger eine Spezialstudie als eine Art Kompendium zum Weihnachtsfest vorlegen zu wollen« (15). Damit sind Chancen und Grenzen des Buches angezeigt. Kann man Diener zweier Herren sein? Eine Habilitationsschrift als Kompendium? Ein Kompendium als Habilitationsschrift? Man kann dem Buch kein schöneres Kompliment machen, als dass das Konzept, unter dem es verlagsseitig veröffentlicht wurde, nicht aufgegangen ist. Das Buch ist eine veritable Habilitationsveröffentlichung, und wer künftig zum Fest der Menschwerdung liturgiewissenschaftlich arbeitet, wird auf dieses Standardwerk gerne zurückgreifen. Der Verlag ist mit dem Vf. einen riskanten Weg gegangen, der sich gleichwohl kontrafaktisch gelohnt hat. Das Thema Weihnachten hält es aus, dass es derartig erschöpfend liturgiewissenschaftlich unterlegt und dargeboten wird, und die Liturgiewissenschaft verträgt es daraufhin, wenn in ihren kategorialen Zuweisungen ein Buch entstanden ist, das über ihren gewöhnlichen Leserkreis hinaus allgemeines Interesse finden kann. So ist diesem Buch eine breite Rezeption zu wünschen, die dann ein Spiegelbild des liturgiewissenschaftlichen Interesses des Vf.s wäre, das Weihnachtsfest als ein Fest der Menschwerdung des Menschen nicht nur als kulturelle Institution zu verstehen, sondern als religiöses Fest zu feiern!