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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

538-540

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schulte, Raphael

Titel/Untertitel:

Das christliche Gottesbekenntnis. Eine an­dere Systematische Theologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. Bd. 1: Prolegomena. 339 S. Geb. EUR 44,00. ISBN 978-3-402-13065-0. (im Folgenden I) Bd. 2: Im Anfang erschafft Gott Himmel und Erde und den Menschen. 395 S. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-402-13066-7. (II)

Rezensent:

Lukas Ohly

Der Emeritus der Wiener katholischen Fakultät Raphael Schulte grundiert seine Theologie mit dem Schriftprinzip. Die beiden angegebenen Bände sind bereits erschienen, weitere sollen folgen. Darin will S. den topologischen und terminologischen Ballast der Dogmengeschichte abwerfen (z. B. I, 333) und sich stattdessen von der Bibel alle Aussagen vorgeben lassen. »Nicht wir tragen von außen an den Text, also an die ›Sache‹, um die es geht, heran, was seiner systematischen Erfassung dienen könnte, sondern es ist die Wirklichkeit selbst, die uns schriftlich vorliegt und sich selbst zur Sprache bringt, als Wort Jahwes« (I, 238). Sein Ansatz folgt einer narrativen Theologie (I, 238 f.318), die zudem die Bibel als Buch eines Autors versteht. Die Bibel ist von Jahwe selbst beauftragt (I, 243), und auch die Kanon-Bildung ist durch Jahwe selbst begründet (I, 248.253). S. muss sich dementsprechend an exegetischen Beiträgen abarbeiten. Oft wird seitenweise ein Autor zitiert, wobei nicht immer deutlich ist, wo die Zitate beginnen (z. B. I, 282 f., äquivoke Anführungszeichen I, 201.280 u. ö.).
In den Prolegomena be­steht ein fast 200 Seiten starker Exkurs zur Biblischen Theologie annähernd nur aus Zitaten. Etwa ein Drittel der bisher erschienenen Systematischen Theologie besteht aus Zitaten (teilweise werden ganze Inhaltsverzeichnisse rezitiert: I, 140.142.147.189), die zudem allenfalls pauschal kommentiert werden (z. B. II, 195). Fast immer werden die Zitatreihen regelrecht abgefertigt: »Eine Auseinandersetzung […] erübrigt sich hier« (z. B. II, 70, vgl. 67; kommentarloser Abbruch I, 19.99). Einer 23-seitigen Zitatauswahl zu einem Beitrag Erich Zengers stehen zwar sieben Seiten Kommentar gegenüber, von denen aber etwa fünf selbst weitere Zitate sind (II, 155–185). Mit solchen Auswuchtungen an Zitatreihen macht es S. den Lesern unnötig schwer. Zum einen verliert man den Überblick, aus wessen Hand man gerade Inhalte empfängt. Zum anderen scheinen es die ausführlichen Zitatreihen für die Argumentation des Vf.s nicht nötig zu haben, differenziert kommentiert zu werden. Beim Lesen hatte ich weithin den Eindruck, es mit zwei Buchgattungen zu tun zu haben: einem Reader zu theologischen und exegetischen Fragestellungen sowie einem systematisch-theologischen Entwurf.
Was Letzteren betrifft, so sind die beiden Bände aber reizvoll. S. entwickelt einen offenbarungstheologischen Ansatz (I, 287.306. 308), der oft – wenn auch vermutlich unbeabsichtigt – an Karl Barth erinnert, sowohl im sprachlichen Impetus als auch in den Inhalten (»unmögliche Möglichkeit« II, 123, vgl. I, 29.313; zur Offenbarung I, 55.307). Sperrig dazu erweisen sich dazu jedoch die mühsamen Anschlüsse an das Lehramtsverständnis der katholischen Dogmatik (I, 314 f.321–324, ferner 52.288), die das Überschwängliche der Offenbarung an die gegebene kirchliche Institution anbinden und somit reduzieren.
Vor allem aber besteht S.s Herausforderung darin, gegen die Einsichten der historischen Kritik der Bibel zu begründen, dass die Bibel Jahwes einheitliches Wort ist, ohne fundamentalistisch zu werden (I, 264 f.). S. unternimmt dafür einen phänomenologischen und einen sprachtheoretischen Ansatz.
Zu seiner Offenbarungstheologie gehört die Einsicht, dass »Gott eine absolut unahnbare, neue Tat setzt« (I, 274, vgl. 304), die sich damit keinen natürlichen oder ontischen Möglichkeiten verdankt (I, 273). Damit verbunden ist eine – zwar keine absolute (I, 239.263 f. 272.292), aber doch weitgehende – Zurückhaltung, im Schema der analogia entis (I, 283.291; II, 224.282) oder einer natürlichen Theologie (II, 269) zu denken. Daraus entwickelt S. eine Sprachtheorie, die sich am präsentischen Vollzug des Sprechens orientiert, entdeckt aber zugleich phänomenologisch »Vorgegebenes« (II, 215–220 u. ö.), dem sich kein Selbst-Vollzug entziehen kann. Damit will S. die These begründen, dass die Bibel nur insofern menschliches Reden von Gott sein kann, als sie, ihm vorgegeben, eigentlich Gottes Rede ist.
Der gehaltsreichste Teil der Prolegomena ist daher das vierte Kapitel, das S.s Sprachtheorie entfaltet (insbesondere seine Metapherntheorie, I, 259–263). Alle Dinge sind dadurch ausgezeichnet, sie selbst zu sein und zugleich anderes sein und bedeuten zu können (I, 263). Wer von der Neuheit aus denkt, kann nicht bei feststellbaren Begriffen einsetzen, sondern muss ihre Vorgegebenheit beachten: Gegebensein setzt Vor-Gegebensein voraus (I, 31). Zu diesem Vor-Gegebensein gehört, dass alle Dinge verstehbar und bedeutungsträchtig sein müssen. Daher müssen sie bereits in ihrem Vor-Gegebensein über ihr Selbst-Sein hinaus sein: So »trägt alles dieses Moment des freien, überschwänglichen, nicht-notwendigen, sondern aus überfließendem, sich stets je mitteilendem Herzen stammenden Daseins schon in seinem puren Existieren in sich« (I, 272). Wäre das nicht so, so könnte etwas nichts bedeuten, und Verstehen und Sprechen darüber wären sinnlos: »Sprache funktioniert nicht aus sich« (I, 261). Vielmehr muss die Vorgegebenheit Gottes zugrunde gelegt werden, weil »Reden-von immer zur Voraussetzung hat, daß die Erfahrung dessen vorliegt, wovon die Rede sein soll […] Dann muss unserer Rede-von Gott wesentlich Gottes eigene Rede-von-sich zuvorliegen.« (I, 287)
In der Konsequenz ist alles Natürliche selbstübersteigernd. An die Stelle einer natürlichen Theologie setzt S. einen Animismus der Wirklichkeit: »Alle und alles kommuniziert miteinander« (II, 120, vgl. 251). Denn alles ist nur aufgrund seiner Freiheit über sich hinaus (I, 263). Da Freiheit aber nichts Natürliches, sondern etwas Personales ist (II, 290), so ist die gesamte Wirklichkeit personhaft (II, 251).
Stark finde ich in Band 2 (die eigentlichen Ausführungen der zunächst thetisch vorgetragenen und langen Zitatreihen gegenübergestellten Grundpositionierung beginnen erst ab 204) den Nachweis, dass das klassische Kausalitätsmodell nicht ausreicht, um das interpersonale Einwirken zu verstehen (II, 259–263.287). Vielmehr ist umgekehrt das freie Einwirken auf Personen das Vorgegebene auch natürlich-materieller Prozesse: »Pure ›Materialität‹ ist nicht und kann nicht sein; und aus purer ›Materialität‹ wird nichts. Desgleichen vermögen pure Gesetze selbst und allein aus sich nichts werden und sein zu lassen« (II, 248). Anstelle purer Ma-terialität steht vorgegebene Materialität (II, 248), die also überschwänglich, frei und personhaft ist. Vorgegebenheit ist damit er­eignishaft, und dem Ereignis kann das Sein überhaupt erst folgen. Ähnliche Passagen könnte man bei Žižek vermuten.
Die Überschwänglichkeit des Gegebenen zeigt sich in einem jeden Ich, das einerseits es selbst ist, aber andererseits im Selbstvollzug erst noch wird (I, 36). Diese Dialektik aus tatsächlicher Selbst-Gegebenheit und Selbst-Ereignen ist in Jahwe begründet. S. weist zurück, in seinem Ansatz von Gott im Sinne eines Gattungsbegriffs zu sprechen (I, 46 u. ö.), und verwendet stattdessen JHWH – was er auch eigenwillig übersetzt: »Ich bin dein/euer« (I, 40.224; II, 100.116). Der Gebrauch des JHWH-Namens ist m. E. eisegetisch (II, 28 f.100 f.) und widerspricht S.s Anspruch, dem Wortlaut der Bibel zu folgen. Seine Offenbarungstheologie folgt vielmehr einer be­stimmten Offenbarungs theorie, wonach alles auf Vorgegebenheiten zurückgeht, da es sich im Vollzug ereignet. Diese Vorgegebenheit ist letztendlich Jahwes präsentes und bleibendes »bara’-Tun« (II, 102), seine währende Anwesenheit (II, 132) oder liebende Präsenz (II, 280). JHWH ist, was er im Vollzug ereignet: er selbst, in­dem er für anderes ist. An diesem eisegetischen und seiner Grundkonzeption geschuldeten Eingriff in den biblischen Text zeigt sich m. E. die Vorordnung einer Offenbarungstheorie vor dem Schriftprinzip: Natürliche Theologie werde dabei personalistisch aufgehoben, so dass anstelle einer analogia entis eine Personenanalogie gesetzt wird: Das Wesen des menschlichen Personseins hat analog zur Folge: »Dann ist dieses auch auf Gott anzuwenden« (I, 286).
Das Realitätsmodell hinter S.s Offenbarungstheorie ist bedenkenswert. Aber anstatt eines Analogiemodells könnte man die Realität in einer spezifischen theologischen Struktur auffassen. Hierzu hat S. drei Hauptmomente der Realität herausgearbeitet: das Vorgegebene (S. spricht auch von »Tatsächlichkeit« oder vom tatsächlichen »ist, was es ist«, II, 27.207, vgl. 94–220), das in Ereignisvollzügen über sich hinausgeht (I, 51.55) und darin präsentisch währt (II, 132.383–385.230). Könnte man hier nicht von einer trinitarischen Struktur sprechen, die auf eine Analogielehre gänzlich verzichtet, weil sie Gottes Selbstrealisierung in kosmischer Kontinuität bildet? Da JHWH als »Ich bin dein/euer« eine Zueignung ist (II, 93), so ist die Spur gelegt, dass in den folgenden Bänden die Unmittelbarkeit JHWHs (II, 272.274.292) verstärkt trinitarisch-strukturell aufgedeckt werden sollte anstatt analog.
An eine evangelische Sozialethik sind übrigens etliche anthropologische Aussagen S.s anschlussfähig: Seine Beschreibung der Geschlechterverhältnisse kann man sogar als gendertheoretisch auffassen (II, 344.360.368.369.371). Und auch in der Frage nach dem Status des Embryos scheint S. mehr Verhandlungsspielraum zu geben, als man es aus katholischer Moraltheologie gewohnt ist (II, 387).