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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

531-534

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Koch, Anton Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zu Hegels Nichtstandard-Metaphysik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. VIII, 327 S. = Philosophische Untersuchungen, 34. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-153011-1.

Rezensent:

Dirk Evers

Bei dem zu besprechenden Werk handelt es sich um die durchgesehene und redaktionell bearbeitete Sammlung von 18 Hegel-Studien des Heidelberger Philosophen Anton Friedrich Koch, die über einen Zeitraum von fast 15 Jahren entstanden sind.
K. versteht Hegels Philosophie als Nichtstandard-Metaphysik. Im Hegel’schen Sinne wäre eine metaphysische Standardtheorie eine solche Theorie, die den gesamten logischen Raum als Inbegriff des Absoluten als Gegebenes zu beschreiben sucht (vgl. als eindrucksvolle Gesamtkonzepte in dieser Hinsicht Leibniz’ Rede von einer Gesamtheit möglicher Welten oder Spinozas singuläre Substanz in der unendlichen Vielheit unendlicher Attribute). Die vor-Hegel’sche Metaphysik teilt die »Ansicht, der logische Raum oder das Absolute sei eine fertige, statische, ewige Gegebenheit: das reine Sein, das vollkommene Wesen nebst dem Inhalt seines Verstandes, die Menge der Welten (usw.)« (4). Dies ist nach Hegels Analyse widerspruchsvoll und entgegen dem Anspruch der Metaphysik immer nur auf einer bestimmten Stufe des logischen Raums und damit nie vollständig möglich. Ohne dass Hegel nun den An-spruch der Metaphysik als standpunkttranszendenter Wissenschaft schlechthin aufgäbe, versucht er nach K. die Widersprüche und Idiosynkrasien der Standardmetaphysik dadurch zu überwinden, dass er die Evolution und Prozessualität des logischen Raumes als dessen Theorie entwickelt. Damit wird seine Metaphysik, so K., zur Nichtstandard-Metaphysik, die den logischen Raum nicht als Gegebenes, sondern als Weg und Bewegung und so zu verstehen sucht, dass seine Entwicklung nicht als bloßes Mäandern, sondern als wohlgeordnete Sukzession deutlich wird, die nicht auf eine höchste Gegebenheit, sondern auf einen solchen Fixpunkt ausgerichtet ist, der zugleich die Rekapitulation aller vorausgehenden Zustände darstellt. Insofern gilt Hegel für K. als »der Entdecker der Evolution und Prozessualität des logischen Raumes, und seine […] Nichtstandard-Metaphysik ist die zugehörige Evolutionstheorie« (4). Aus diesem Verständnis erklärt sich der Titel des Bandes.
K. ist allerdings der Auffassung, dass die Hegel’sche Nicht-Standardmetaphysik ebenso über sich hinausdrängt, wie dies nach Auffassung Hegels die Standard-Metaphysik tut. Das wird außer aus wichtigen Momenten der Hegel’schen Philosophie selbst auch aus den nicht einfach der Standard-Metaphysik zuzuschlagenden Philosophien von Kant, Fichte, Jakobi und Schelling deutlich, die hinausweisen »ins Freie eines gänzlich transmetaphysischen[…] Philosophierens« (5), das seit Heidegger »neben der ewig fortdauernden, wenn auch gedanklich schon überbotenen Metaphysik – Standard und Nichtstandard – sich zu artikulieren beginnt, und zwar als hermeneutische Philosophie im weiten Sinn des Wortes, der keineswegs Anleihen bei der (an sich und besonders zu ihren Glanzzeiten überaus fruchtbaren) analytischen Philosophie und der Philosophie der Logik ausschließt« (9). Insofern vollendet sich nach K. in der Hegel’schen Philosophie vielleicht die Metaphysik, sicherlich aber nicht die Philosophie.
Dennoch lohnt es sich nach K. unbedingt, in die schwierige Schule Hegels zu gehen. Seinen Texten etwas abzugewinnen, lohnt sich nach K. deshalb, weil Hegel »Sachverhalte behandelt, die so grundlegend und so schwer zu fassen sind, daß sonst niemand ihre wissenschaftliche Darstellung gewagt hat« (45). Um sich ihnen überhaupt nähern zu können, habe Hegel im Zuge der Gedankenentwicklung seiner Werke die Leserschaft oft vergessen und in einer Art »schriftstellerische[m] Autismus« (45) nur noch für sich selbst geschrieben. Für K. ist deshalb entscheidend, Hegel von Grund auf zu rekonstruieren und zu versuchen, in eine halbwegs stimmige und anschlussfähige philosophische Skizze zu bringen, was sich dem Zugriff mit einer fundamentalen Sperrigkeit widersetzt. K. tut dies, indem er Verbindungen herstellt zu anderen Denktraditionen vor allem auch aus dem Bereich dessen, was man analytische Philosophie zu nennen pflegt.
Die Aufsätze des Bandes sind in vier Gruppen angeordnet. Die erste Gruppe interpretiert die Einleitung und die drei Anfangskapitel der Phänomenologie des Geistes und damit Hegels Verfahren. Die zweite Gruppe widmet sich der Wissenschaft der Logik, insbesondere der jeweiligen Anfangskapitel ihrer drei Bücher zu Sein, Wesen und Begriff. Die dritte Gruppe beschreibt den Übergang von der Logik zur Naturphilosophie und wendet sich damit Phänomenen der Raumzeitlichkeit zu. Der vierte Teil setzt die Hegel’sche Philosophie zu anderen Theoriebildungen einer philosophischen Metaphysik bzw. Metaphysikkritik (Aristoteles, Jakobi, Heidegger u. a.) ins Verhältnis und formuliert auch »Grundsatzbedenken«, die K. gegen die Nähe Hegels zum Ideal des »Transparentismus«, »dem Ideal der totalen, verbergungsfreien Unverborgenheit« (12) geltend macht.
Werfen wir abschließend einige kurze Blicke auf ausgewählte einzelne Abhandlungen, und zwar auf einen Aufsatz aus jeder Gruppe. Der Band beginnt mit einer Auslegung von Hegels be­kannter Forderung, die Prüfung des Wissens zugleich als Prüfung ihres Maßstabs durchzuführen. K. tut dies, indem er an der Ein-leitung zur Phänomenologie des Geistes entlanggeht und damit Hegels Darstellung des erscheinenden Wissens nachzeichnet. Sie beginnt mit der internen Differenz des Bewusstseins von An-sich und Für-es, wodurch das Bewusstsein beim Übergang zum Wissen sich von dem unterscheidet, worauf es sich zugleich bezieht. Wahrheitsansprüche implizieren deshalb nicht schlichte Subjekt-Objekt-Beziehungen, sondern sind durch eine selbstbezügliche Struktur charakterisiert. Das Bewusstsein betrachtet und prüft sich selbst, es ist einerseits Bewusstsein des Gegenstandes, andererseits Bewusstsein seiner selbst. Wie ist nun eine Prüfung des Wissens möglich, wenn Wissen und Gegenstand sich nicht entsprechen? Nach K. ist ebendies die Pointe Hegels, dass solche Inkongruenz nicht allein zu Lasten des Wissens, sondern auch zu Lasten des Gegenstands geht und dass durch eben eine solche Figur der Maßstab für das Bewusstsein nicht dogmatisch vorausgesetzt ist, sondern im Bewusstsein selbst so als Operator zu fungieren vermag, dass jede Prüfung des erscheinenden Wissens auch seinen Maßstab prüft.
Der sechste Aufsatz über die Selbstbeziehung der Negation in Hegels Logik ist eine anregende Interpretation mit Mitteln moderner mengentheoretischer Einsichten. K. analysiert die Hegel’sche Logik mit den Mitteln von Peter Aczels Mengenlehre nicht-wohlfundierter Mengen, bei denen das Fundierungsaxiom der klassischen Mengenlehre durch ein schwaches bzw. starkes Anti-Fundierungsaxiom ersetzt wird. Solch eine Mengenlehre, die K. im Anhang zu dem Beitrag kurz erläutert, ist konsistent möglich und mit Hilfe einer graphentheoretischen Semantik bewertbar. Nach K. lässt sich der Übergang von der Negation in der Hegel’schen Seins- zu derjenigen in seiner Wesenslogik verstehen als der Übergang von schwacher zu starker Unfundiertheit, aus der Hegel das Wesen als Identität gewinnt.
Anregend ist auch der elfte Beitrag zum Übergang von der Logik zur Naturphilosophie, vom Reich des reinen Gedankens zur Natur in Raum und Zeit, und dies unter anderem dadurch, dass K. Hegels Herleitung der Dreidimensionalität des Raumes aufnimmt und zu seiner eigenen, logisch verfassten Raumauffassung ins Verhältnis setzt. Insgesamt wird deutlich, wie reichhaltig und durch Indexikalität geprägt, aber auch wie wenig ausgearbeitet Hegels Konzepte von Raum, Zeit und ihrem Zusammenhang daherkommen. Kritisch macht K. darüber hinaus geltend, dass man im Grunde die Hegel’sche Philosophie hinter sich lassen muss, wenn man eine sich ganz auf Endlichkeit und indexikalische Perspektivität beschränkende Auffassung von Raum, Zeit und ihrer Wechselverhältnisse entwickeln möchte, die nicht nur für das Subjekt, sondern auch für Raum und Zeit selbst in Anschlag zu bringen wäre.
Der Schlussbeitrag der Sammlung fragt noch einmal grundsätzlich nach der Bedeutung und philosophiegeschichtlichen Stellung von Hegels Wissenschaft der Logik, die nach K. deshalb, weil sie ernst macht mit der Forderung strikter Voraussetzungslosigkeit, klassischen metaphysischen Ansätzen überlegen ist. Aber auch sie bleibt noch dem Ideal schlechthinniger Transparenz verpflichtet und ist damit in ihrem Wahrheitsgehalt beeinträchtigt, wenn sie den durchaus paradoxen Standpunkt der Standpunktlosigkeit zu beziehen sucht. Um dieses Ideal zu kritisieren, bezieht sich K. auf die hermeneutische Philosophie des frühen Heidegger, die nach seiner Überzeugung recht darin hat, dass es nur Standpunkte der Endlichkeit und des Wechselverhältnisses gibt, die nicht wieder als in eine umfassende Perspektive aufgehoben verstanden werden können. Nur von daher können für K. die Wahrheitsmomente sowohl der analytischen als auch der synthetisch-idealistischen Philosophie verstanden und ohne überzogenen Anspruch auf verbergungsfreie Unverborgenheit theoretisch eingebettet werden. Und noch eine weitere, den Theologen angehende Bemerkung K.s sei in diesem Zusammenhang aufgeführt: Vielleicht ist auch für Gott ein Bezug auf die Schöpfung nur von innerhalb der Schöpfung, von einem endlichen Standpunkt, von der Menschwerdung aus möglich.
Ein anspruchsvoller, aber schöner Band, der über Hegels Logik systematisch und unter Anknüpfung an analytische Traditionen und gegenwärtige Realwissenschaften aufklärt, der traditionell metaphysische, transmetaphysische, analytische und hermeneutische Überlegungen zusammenfügt und die Faszination, die das Hegel’sche Denken auszulösen in der Lage ist, aber auch das Unbehagen an seinem Anspruch, das Ganze als das Wahre auszuzeichnen, nachvollziehbar macht.