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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

938–940

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Edel, Susanne

Titel/Untertitel:

Wirtschaftsethik im Dialog. Der Beitrag Arthur Richs zur Verständigung zwischen Theologie und Ökonomik.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1998, 384 S. gr.8 = Arbeiten zur Theologie, 88. Kart. DM 88,-. ISBN 3-7668-3578-5.

Rezensent:

Martin Honecker

Die im Sommersemester 1995 in Heidelberg angenommene Dissertation von Susanne Edel ist eine sorgfältige und genaue Nachzeichnung von A. Richs Wirtschaftsethik. Richs zweibändige Wirtschaftsethik, deren 1. Band 1984 erschien, setzt für das Ende des 20. Jh.s Maßstäbe in der evangelischen Ethik. Georg Wünschs Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927, war bekanntlich der letzte wirtschaftsethische Entwurf aus der Feder eines evangelischen Theologen; das beredte Schweigen evangelischer Wirtschaftsethik sollte zu denken geben.

E. rekonstruiert in sieben Kapiteln Richs Wirtschaftsethik und arbeitet deren Bedeutung heraus. Nach einer "Einleitung" (13 ff.), die schulmäßig Gegenstand, Methode und Aufbau der Untersuchung vorstellt, geht Kapitel 1 aus von "Perspektiven gegenwärtiger kirchlicher und wirtschaftsethischer Urteilsfindung" (27 ff.). Dazu werden drei kirchliche Äußerungen, z. T. kritisch, referiert: Die EKD-Denkschrift "Gemeinwohl und Eigennutz" 1991, die Sozialenzyklika, "Centesimus Annus", 1991, und die Stellungnahme des ÖRK "Leben und volle Genüge für alle. Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft", 1992. Auf die Darstellung der kirchlichen Stellungnahmen folgt ein Abschnitt "Zum wissenschaftlichen Umfeld von Richs Wirtschaftsethik. Wichtige Themen der gegenwärtigen wirtschaftsethischen Diskussion" (59 ff.): Es werden vier wirtschaftsethische Konzeptionen vorgestellt, um Vergleichsmöglichkeiten zu erhalten, nämlich die Ansätze von Peter Koslowski mit einer normativen ethischen Ökonomie, von Karl Homann, der die These vertritt, der systematische Ort der Moral in der Marktwirtschaft sei die Rahmenordnung, von Friedhelm Hengsbach, der eine "Bewegungsethik" konzipiert, und von Eilert Herms, der wirtschaftliches Handeln als regelbefolgende Interaktion interpretiert. Alle diese Konzeptionen vertreten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, ein Wechselverhältnis von Ethik und Ökonomik. Kapitel II "Richs prinzipielle Erwägungen zur Konzeption wirtschaftsethischer Urteilsfindung" (94 ff.) zeichnet Richs ethischen Ansatz nach, vor allem anhand des 1. Bandes der Wirtschaftsethik. Schwerpunkte sind Fragen wie die Eigenart ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, der Einfluß von G. Weisers Auffassung von "normativen Sozialwissenschaften" (106 ff.), die Unterscheidung der Ebenen wirtschaftsethischer Argumentation (Kriterien, Maximen, das Begriffspaar "Menschengerechtes" und "Sachgemäßes", 119 ff.), das mit einem Rückblick auf die vier im Kapitel I geschilderten wirtschaftsethischen Konzeptionen endet. Kapitel III "Zum Wirtschaftsverständnis der wichtigsten ökonomischen Dialogpartner in Richs Wirtschaftsethik" (132 ff.) referiert die Soziale Marktwirtschaft nach den Vorstellungen von A. Müller-Armack, Ota Siks "humane Wirtschaftsdemokratie", Hans Christoph Binswangers ökologischen Wirtschaftsstil. Kapitel IV "Zur Entwicklung der theologischen Grundlegung von Richs Wirtschaftsethik" (157 ff.) behandelt nach einem biographischen Abriß die prägenden theologischen Einflüsse auf A. Rich: Leonhard Ragaz, Nikolai Berdiajew, Richs Auseinandersetzung mit H. Zwinglis politischer Ethik und mit Blaise Pascal, schließlich die Auseinandersetzung mit Karl Barths christologischer Ethik (186 ff.). Rich ist biographisch bestimmt durch das Spannungsverhältnis zwischen Emil Brunner, auf dessen Zürcher Lehrstuhl er nachfolgte, und dem Basler Karl Barth.

Rich teilt E. Brunners "sachgerechte" Wirklichkeitssicht, dessen Realitätssinn war jedoch kritisch gegenüber seinem theologischem Ansatz. Erst nach diesem langen Anmarschweg wird die Wirtschaftsethik im eigentlichen Sinne Thema der Erörterung:

Kapitel V "Hauptaspekte der theologischen Grundlegung von Richs Wirtschaftsethik" (207 ff.). Nochmals wird der theologische Ansatz vorgestellt, gegliedert nach den drei Ebenen: "Humanität aus Glaube, Hoffnung, Liebe als fundamentale Erfahrungsgewißheit" (208 ff.). Es folgen Liebe als kritische Prüfinstanz (217 ff.), eine differenzierte Sicht der Entwicklung der Kriterien in der Entstehung von Richs Konzeption (218 ff.), mit einem Ausblick auf Strukturprinzipien gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem die Unschärfe von Richs Sicht von gesellschaftlicher Gerechtigkeit beleuchtet wird (237 ff., vor allem 240 f.); die Kritik wird freilich eher vorsichtig nur angedeutet (241 ff.) und die Aporien einer spezifisch christlichen Sozialethik (251 ff.) werden nur in Anmerkungen pointiert, z. B. im Zitat von A. Jäger; "Der vertikale Aspekt der menschlichenTranszendenz- und Gotteserfahrung ... steht allzu deutlich am Rand" (251, Anm. 114).

Kapitel VI. "Welches Wirtschaften wird Menschen gerecht? Die Durchführung des Urteilfindungsprozesses und ihre kritische Würdigung" (260 ff.) referiert Richs Anwendung seines Urteilsverfahrens auf Wirtschaftsordnung und Wirtschaftssysteme im 2. Band. Auch hier werden analytische Unschärfen bei A. Richs Ausführungen zur Wirtschaftssystemfrage konstatiert (307). Sein Ausblick auf die Weltwirtschaft (308 ff.) ist eher ein Nachtrag. Zurecht herausgestellt wird, wie Richs Abgrenzung gegen E. Brunners Schöpfungsordnungstheologie das Kriterium der Mitgeschöpflichkeit, die Beachtung der Leiblichkeit des Menschen unterschätzt (vgl. 337, 343 ff., 350 ff.). Auch war Rich sehr zurückhaltend im Blick auf die Rolle der Kirche in der Sozialethik und auf die Kirche als Träger der Wirtschaftsethik (327 ff.). Das letzte Kapitel VII "Richs Beitrag zur Verständigung zwischen Theologie und Ökonomik im Dialogprozeß wirtschaftsethischer Urteilsfindung" (331 ff.) faßt im Rückblick den Ertrag der Arbeit zusammen; der Rückblick auf den Gang der Erörterung formuliert Thesen, die sich aus Richs Beitrag zur Wirtschaftsethik ergeben, und will den wirtschaftsethischen Dialog fördern (357 ff.).

Die vorliegende Dissertation zeichnet sich aus durch eine verständnisvolle Wiedergabe von Richs Wirtschaftsethik. Neben den Arbeiten von Siegfried Karg (z. B. S. Karg, Arthur Rich, Wegweisend für den Dialog zwischen Ethik und Wirtschaft, in: Stephan Leimgruber/Max Schoch [Hrsg], Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, Basel, Freiburg, Wien 1990, 369-387) vermittelt die Arbeit einen zuverlässigen Überblick. Die Konzeption ist detailliert nachgezeichnet.

Manches ist dadurch freilich recht ausführlich und breit geraten. Redundanzen hätten vermieden werden können. Wiederholungen finden sich (z. B. 256-259, 312 ff.). Richs Beitrag zur Politischen Ethik (Glaube in politischer Entscheidung, Zürich 1962, Radikalität und Rechtsstaatlichkeit, Zürich 1978) wird nicht einbezogen. So wirkt Richs Wirtschaftsethik merkwürdig entpolitisiert. Von Wirtschaftspolitik ist nicht die Rede. Die linksprotestantische Kapitalismuskritik (Helmut Gollwitzer, Walter Kreck, Ulrich Duchrow u. a.) werden nicht genannt. Die theologische Fundamentalkritik an der Marktwirtschaft ist also ausgeblendet. Daher wirkt Richs Entwurf recht überzeitlich und kontextfrei im Sinne einer Fundamentalethik. Die katholische Soziallehre, die von der Enzyklika "Rerum novarum" 1891 angestoßen wurde, ist ebenfalls nicht einbezogen. Ein Blick auf die katholische Soziallehre könnte auch Gründe nennen, warum die Wirtschaftsethik in der katholischen Soziallehre eine große traditionsbildende Kraft ist (z. B. O. von Nell-Breuning, G. Gundlach, J. Höffner, Wilhelm Weber und viele andere). Die Perspektive der Arbeit ist insofern verkürzt und binnenprotestantisch. Die lange vorherrschende Engführung der Sozialethik in der Konfrontation zwischen Emil Brunner und Karl Barth blendet nämlich wesentliche Fragestellungen und Erkenntnisse des neueren Protestantismus aus, die noch bei Ernst Troeltsch präsent waren. Die prinzipielle Frage bereits an A. Richs Entwurf ist, ob Wirtschaftsethik ohne Grundlegung in einer Kulturtheorie möglich ist und welche Bedeutung der (Wirtschafts-)kultur auch für den wirtschaftlichen Erfolg und die "ökonomische Gesamteffizienz" (vgl. Edel 360 ff.) zukommt.

Das Buch bietet für die Weiterarbeit an den Fragen des Zusammenhangs von Politik, Kultur und Wirtschaft eine solide Grundlage und bildet einen wichtigen Beitrag zur Geschichte evangelischer Wirtschaftsethik.