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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

527-528

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bacher, Christiane Maria

Titel/Untertitel:

Philosophische Waagschalen. Experimentelle Mystik bei Nikolaus von Kues mit Blick auf die Moderne.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2015, 228 S. = Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte, Reihe B, 11. Kart. EUR 43,00. ISBN 978-3-402-15995-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

»Cusanus spielte durchaus keine unwesentliche Rolle bei der Entstehung der modernen Naturwissenschaft und erst durch die An­teilhabe an diesen Entwicklungen konnte seine mystica theologia als eine experimentelle Mystik überhaupt entstehen.« (82) Sein Konzept findet Ausdruck vor allem in seinen Idiota-Büchern, die sie als eine Einheit sieht (197). Dies darzustellen bemüht sich Chris­tiane Maria Bacher in ihrer Dissertation, die bei Harald Schwaetzer erarbeitet und an der Universität Hildesheim 2014 angenommen wurde. In drei Kapiteln entwickelt sie ihre Auffassung: Mystik (23–79), Naturwissenschaft (81–115), »Aenigmatische Naturwissenschaft« als »experimentelle Mystik« (117–172) und Philosophische Waagschalen in der Moderne (173–195). Ein Fazit beendet die Ar­beit, Bibliographie und Register sind beigegeben.
So unterschiedlich heute der Mystik-Begriff auch formuliert wird, für B. gilt: »Die mystische Theologie des Cusanus fungiert als einsehbare Erkenntnistheorie: Als eine an Denkern wie Meister Eckhart angelehnte Intellektmystik.« (15) Schon Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg und Eckhart haben den »intellekthaften Aufstieg zu Gott in den Vordergrund« ihrer mystischen Theologie gestellt (28). Sie stellt fest, bei Nikolaus ist »dem menschlichen Versuch Gott zu sehen immer der Erfolg verwehrt« (34), die Intellektmystik zielt »rein auf die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes« (40). Sie betont, bei Nikolaus kommt es durch Welterkenntnis zur Gotteserkenntnis; durch das »Wechselspiel zwischen sensus und intellectus« kommt es »zur geistigen Schau und Berührung des unendlichen Gottes«. In den ersten beiden Idiota-Dialogen (De sapientia, De mente) fallen Welterkenntnis und mystische Theologie in eins, ebenso wie in De staticis experimentis (78).
»Eine ganz besondere Form der Erkenntnis stellt für Cusanus die naturwissenschaftliche Erkenntnis« dar. Gegen Jaspers betont sie, dass Cusanus »durchaus keine unwesentliche Rolle bei der Entstehung der modernen Naturwissenschaft« spielt, auch wenn er selbst »kein ausgewiesener Naturwissenschaftler« war (81 f.90). Er weiß schon, dass sich die Erde bewegt und »die Unendlichkeit der Welt identisch (ist) mit ihrer Endlichkeit« (97). Auch wenn er nur theoretisch davon schreibt und keine Experimente von ihm bekannt sind, so ist doch für ihn das praktische Experimentieren die Mutter der Wissenschaft, es ist der Königsweg zur Erkenntnis (100.106). In De staticis experimentis ist das Wiegen »ein wichtiger Faktor bei der Suche nach der Wahrheit in der Natur« trotz aller Begrenztheit des menschlichen Geistes. Die experimentelle Naturwissenschaft ist für ihn »aenigmatische Naturwissenschaft« (111.114 f.).
B. will also De staticis experimentis als aenigmatische Schrift lesen, »welche auf das Verborgene hinter dem Augenscheinlichen verweist«, denn die Waage sei »als das präziseste Instrument eine Erfindung des menschlichen Geistes«. Damit kann dieser durch im experimentum gewonnene experientia Weisheitserkenntnis erlangen. Naturwissenschaft und mystische Weisheitssuche fallen so ineinander. Es kommt »zu einer Annäherung an Gott«, zu »einer intellekthaften Erfahrung Gottes«, zum »Vorgeschmack der un­endlichen ›Süßigkeit‹ Gottes« (117–121.129). B. bringt schließlich De ludo globi und die mathematischen Schriften des Nikolaus ins Spiel. Das Beschäftigen mit der Mathematik und das Spielen mit der Kugel seien ebenfalls als aenigmatische Experimente zu verstehen (140–172). Insgesamt geht es ihm darum, die »kreativ-schaffende Kraft nicht nur des göttlichen, sondern auch des menschlichen Geistes« hervorzuheben (173).
Im letzten Kapitel gibt sie einen Ausblick auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und mystischer Weisheiterkenntnis in der Moderne – und zwar bei Karl Jaspers und Heinrich Barth. Bei beiden stehen »wissenschaftliche Welterkenntnis und existentieller Gottesbezug in engem Zusammenhang« (195).
Als »Fazit« sieht B. die gesamte aenigmatische Philosophie des Nikolaus »als Anleitung zum experimentellen Vollzug des Geistes auf dem Weg zum mystischen experimentum […] des intellectus«. Die exakte Naturwissenschaft rege zu der Suche nach Gott bei Nikolaus an, »während in der Existenzphilosophie gerade der Wissenschaftspessimismus den Weg zum Göttlichen […] wiedereröffnet (197.200).
B. hat eine anregende und fundierte Arbeit vorgelegt, die sicher zum Gespräch des Für und Wider anregt. Es lohnt sich, sie zu lesen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Kritisch ist zu bemerken, dass die Fußnoten auf S. 70 f. aus dem Tritt gekommen sind. Anm. 223 f. sind nicht im Text angegeben, ab Anm. 224 sind bei allen Fußnoten zwei (also 226 ff.) hinzuzufügen.