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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

520-526

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Titel/Untertitel:

Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 3: Predigten 1790–1808. Hrsg. v. G. Meckenstock.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. C, 1174 S. m. 1. Abb. Lw. EUR 289,00. ISBN 978-3-11-026546-0.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 5: Predigten 1816–1819. Hrsg. v. K. Kretschmar. Unter Mitw. v. M. Pietsch. Berlin u. a.: De Gruyter 2014. LXXXVIII, 738 S. Lw. EUR 249,00. ISBN 978-3-11-026547-7.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 11: Predigten 1828–1829. Hrsg. v. P. Weiland. Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XLI, 650 S. Lw. EUR 249,95. ISBN 978-3-11-035092-0.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 13: Predigten 1832. Hrsg. v. D. Schmid. Berlin u. a.: De Gruyter 2014. LXI, 648 S. Lw. EUR 249,95. ISBN 978-3-11-036409-5.


Seit 2013 sind vier weitere Bände der Predigten Schleiermachers in der III. Abteilung der KGA erschienen. Trotz mancher bekannter Eigentümlichkeiten (gelegentliche Doppeleditionen nicht genau übereinstimmender Nachschriften bzw. Druckfassungen) belegen sie das exzellente Editionsniveau der KGA. Vor allem aber sind sie eine Fundgrube für ein gründliches und differenziertes Verständnis der Theologie Schleiermachers, das dessen praktischer Arbeit als Prediger und Seelsorger neben seinen akademischen Werken als Lehrer der Theologie das gebührende Gewicht einräumt.
I) Den bei Weitem umfangreichsten Band der Predigten 1790–1808 hat Günther Meckenstock herausgegeben. Er erschien 2013 als Band 3 der III. Abteilung der KGA und wurde in enger Verbindung mit KGA III/1 erarbeitet. Die detaillierte Einleitung des Bandherausgebers bietet in gewohnt zuverlässiger Weise neben einer ausführlichen historischen Einführung (VIII–XXXVII) einen editorischen Bericht (XXXVII–XLIX), der für den richtigen Gebrauch der Ausgabe unbedingt zur Kenntnis zu nehmen ist. Hat man sich die Regeln der Textgestaltung vergegenwärtigt, erschließt sich vieles schon beim Blick auf die typographisch und im Aufbau überzeugend gestalteten Seiten. Jeder Predigt (mit Ausnahme der bloßen Entwürfe) wird ein editorischer Kopftext vorangestellt, der über den Termin, den Ort, den ausgelegten Bibeltext und die Quellen informiert. Dabei werden insbesondere im Blick auf die den Predigten zugrundeliegenden Bibeltexte bei einigen der von Adolf Sydow 1836 im Band 7 der Sämmtliche Werke publizierten Predigten Fehlzuschreibungen korrigiert, die das Verständnis der Predigten erheblich befördern. Im Unterschied zu den anderen Predigtbänden werden in diesem Band keine Predigtnachschriften von fremder Hand abgedruckt, sondern nur Schleiermachers eigene Manuskripte, und zwar 405 Predigtentwürfe von seiner Hand sowie zwei von ihm in Druck gegebene Predigten. Nicht alle Predigtentwürfe Schleiermachers aus diesen Jahren sind erhalten oder konnten gefunden werden. Eine große Zahl aber wird in diesem Band geboten. Von Anfang an predigte Schleiermacher frei nach einer zuvor erstellten genauen Disposition. Nur in einigen Fällen hat er diese nachträglich ganz oder teilweise verschriftet. Von den hier gebotenen 364 Dispositionen und 41 Verschriftungen waren bislang nur 92 Dispositionen und 32 Predigten bekannt. Der Band bietet also eine beindruckende Menge neuen Materials. Schleiermacher hat auf alles geschrieben, nicht nur auf leere Seiten, sondern auch auf die Rückseite von Briefumschlägen und andere Papiere. Eine Reihe von Manuskriptseiten in Faksimile verdeutlicht die nicht geringen Schwierigkeiten, die der Editor bei der Transkription dieses Materials zu bewältigen hatte.
Die Predigten gruppieren sich, Schleiermachers Tätigkeitsfeldern folgend, in die frühen Predigten (1790–1797), die Predigtentwürfe in Landsberg an der Warthe (1794–1796), an der Charité und in der Berliner Zeit (1797–1802), in Stolp (1802–1804) und in Halle (1804–1806) sowie einige Predigten und Predigtentwürfe, die zwischen 1806 und 1808 vermutlich in Halle entstanden sind, sich aber nicht in allen Fällen eindeutig zuordnen lassen. In einem Anhang (917–1140) werden vier Texte mitgeteilt, die für den gottesdienstlichen Rahmen von Schleiermachers Predigttätigkeit in diesen Jahren maßgeblich waren: die preußische »Kirchen-Agenda« und die »Kirchen-Gebethe« vom Anfang des 18. Jh.s, die »Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen« von 1829 sowie die von Schleiermacher zusammengestellte »Unierte Agende der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin«, die 1822 im Zuge der Vereinigung der reformierten und lutherischen Gemeinde geneh migt wurde und hier erstmals vollständig veröffentlicht wird (1000–1016). Der Text zeigt schön, wie Schleiermacher Elemente aus beiden konfessionellen Traditionen aufgreift und zu einem Ganzen fügt, in das sich alle Mitglieder der Gemeinde finden können. Der Band wird von fünf Verzeichnissen beschlossen: Editionszeichen und Abkürzungen, Literatur, Namen, Bibelstellen und – be­sonders hilfreich – die Predigten in zeitlicher Anordnung (1165–1174). Die gelegentlich zu hörende Fehlmeinung, Schleiermacher habe nicht über alttestamentliche Texte gepredigt, lässt sich mit einem Blick widerlegen: Die neutestamentlichen Texte überwiegen, aber es gibt von Anfang an Predigtentwürfe zu Texten aus den Psalmen, dem Deuteronomium, den Sprüchen und dem Prediger.
Der Band beginnt mit der Probepredigt Schleiermachers im Berliner Dom zur Ersten Theologischen Prüfung vom 15. Juli 1790 über Lk 5,29–32 (Nr. 1). Ab da predigt er unregelmäßig, auch als Hauslehrer bei der Grafenfamilie Dohna in Schlobitten. Bald schon formuliert er seine Predigten nicht mehr wörtlich aus, wie er im Mai 1793 seinem Vater mitteilt: »Ich habe nämlich schon seit einiger Zeit aufgehört meine Predigten wörtlich zu concipieren; ich mache eine vollständige Disposition, worin kein Gedanke und kein Uebergang ausgelassen ist; die Diction aber schreibe ich nur bei solchen Stellen auf, die mir schwierig scheinen, bei den übrigen wird sie nur auf mannigfache Weise durchdacht und dann höchstens die Art des Satzes bestimmt.« (X) Häufig ausformuliert dagegen sind die Eingangsgebete, mit denen Schleiermacher den Gottesdienst eröffnet, bzw. das Schlussgebet, mit dem er die Predigt beschließt. B eides, der freie Vortrag und die für den Gottesdienst verfassten Gebete, bleiben Kennzeichen seiner Predigtättigkeit. Nach dem zweiten Examen Ende März wird er am 6. April 1794 zum Predigtamt ordiniert und hält seine Ordinationspredigt über Tit 2,11–15 (Nr. 10). Eine Woche später, am 18. April 1794, tritt er seine erste Stelle an der Konkordienkirche in Landsberg an der Warthe am Karfreitag mit einer Predigt über 1Kor 11,26 an (Nr. 11), die in zwei nicht identischen Versionen schriftlich vorliegt.
Seine erste gedruckte Predigt erscheint in einem 1799 von Phi-lipp Karl Buttmann herausgegebenen Sammelband »Auswahl noch ungedruckter Predigten von Ammon, Bartels, Dietrich, Löffler, Marezoll, Sack, Schleiermacher, Spalding, Teller, Zöllner, Zollikofer« und ist dem Thema »Die Gerechtigkeit ist die unentbehrliche Grundlage des allgemeinen Wohlergehens« gewidmet (591–606). Sie erschien im selben Jahr wie seine Religionsschrift und stellte Schleiermacher in einen illustren Kreis bekannter Prediger. Ge­rechtfertigt wurde das seitens des Verlags mit dem Hinweis, er sei ja »dem größeren Publikum durch die von dem Herrn Hofprediger Sack empfohlene Uebersetzung der Predigten von J. Fawcett rühmlichst bekannt, und in Berlin wegen seiner Talente und Einsichten so geschätzt, dass er auch in seiner solchen Gesellschaft, von ihr selbst wie vom Publikum, nicht ungern wird gesehen werden« (XX). Schleiermacher hat sich über dieses »wunderliche Entrée in die literarische Welt« in einem Brief an Henriette Herz vom 16. April 1799 ironisch ausgelassen (XX).
Die Dispositionen seiner Predigten sind unausgeführte Partituren, aber sie lassen schneller als die ausgeführten Texte die Klarheit der Argumentation und die Vielzahl der Themen erkennen, über die Schleiermacher in diesen Jahren gepredigt hat: Friedfertigkeit und Eintracht; Gerechtigkeit; das Übel des Zorns; die rechte Weise, Liebe zu üben; die Feinde des Guten; Eigennutz und falsche Freunde; das Leiden des Gerechten; das Bekennen der Sünden; die Vergänglichkeit des Irdischen; Zufriedenheit und Hoffnung; Geduld in der Trübsal; die Wichtigkeit eines freundlichen Betragens und vieles andere mehr. Es geht keineswegs immer um ethische oder gar dogmatische Themen, sondern häufig um Affekte, Gefühle, zwischenmenschliche Einstellungen – auch wo in einer Predigt über Joh 15,15 »Christus [als] der Vertraute Gottes und wir [als] seine Freunde« dargestellt werden (810 f.). Auffällig ist, wie die stets klare Exposition des Gedankengangs mit den oft affektbezogenen Themen kontrastiert, die zur Erbauung der Gemeinde und des Einzelnen aufgegriffen werden. Offenbar wurde das auch von den Predigthörern bzw. -lesern bemerkt. Schleiermachers 1806 gehaltene und separat gedruckte Antrittspredigt in Halle »bei Eröffnung des akademischen Gottesdienstes der Friedrichs-Universität« über Röm 1,16 lobt der Rezensent für ihre »Gedankenschärfe und den Gedankenreichtum des Predigers«, aber er kritisiert ihre Sprachgestalt, insbesondere auch die des Eingangsgebets: »Herr Schleiermacher betet zu kalt, fällt, gewiß ohne es zu wollen, in den Ton der Belehrung und Betrachtung, und nimmt sich auch selbst bey dem Gebete nicht gehörig in Acht, in eine mysteriöse Sprache zu fallen […]«, so dass unklar bleibe, ob denn »die ganze Religion Sache des bloßen Gefühls, und die öffentliche Erbauungsanstalt lediglich eine Gelegenheit zu andächtiger Erhebung, zu Anregung religiöser Empfindungen [sei]; und daß eben deshalb das Einhüllen dessen, was dabey – nicht gedacht, sondern gefühlt werden soll, in eine dunkle Sprache, das Andeuten innerer Gefühle, über welche dem Verstande so wenig ein Urtheil, als eine Leitung zustehe – nach seiner Meinung und Weise, von der heiligen Rede unzertrennlich sey« (XXXII). Der Rezensent will es denen, »die mit dem Lehramt in der Kirche betraut sind«, überlassen zu klären, ob es beim Predigen denn hinreiche, religiöse Gefühle und Stimmungen anzuregen, oder nicht vielmehr darum gehe, »Verstand und Wille, Geist und Herz in einem beständigen Lebenswandel« zusammenzubringen (XXXIII). Wer Schleiermachers detaillierte Predigtentwürfe liest, wird erkennen, dass er diese Frage gerade mit der kreativen Spannung zwischen klarer gedanklich-argumentativer Predigtdisposition und appellativ-erbauender Rede beim Predigtvortrag beantwortet hat. Das Erste wird in diesem Band in beeindruckender Fülle und Klarheit geboten. Das Zweite muss man sich aus den wenigen Beispielen ausgeführter Predigten erschließen. Man muss sich nur hüten, die Predigtdispositionen mit der Predigt und den ausformulierten Text mit dem Predigtvortrag zu verwechseln.
Der hervorragend edierte Band lädt ein, genauer zu verfolgen, wie sich Schleiermachers theologisches Denken im homiletischen Prozess entwickelt und verändert hat. Gerade die Dispositionen geben dafür kaum zu überschätzendes Material an die Hand. Künftige Darstellungen der Entwicklung von Schleiermachers Theologie werden sie berücksichtigen müssen.
II) 2014 erschien der von Katja Kretschmar unter Mitwirkung von Michael Pietsch edierte Band KGA III/5 der Predigten 1816–1819. Er stellte die Editoren vor ganz andere Herausforderungen, wie die Einleitung der Bandherausgeber deutlich macht (XI–LXXXVII). Nach einer Historischen Einführung, die Schleiermachers Predigttätigkeit in den Jahren 1816–1819 beschreibt, gibt ein ausführlicher Editorischer Bericht neben den notwendigen Informationen zur Text- und Druckgestaltung vor allem Auskunft über die zehn Gruppen von Quellentexten, die in diese Ausgabe eingearbeitet wurden (LXXI–LXXXV). Diesen Teil der Einleitung sollte man sich auf jeden Fall vergegenwärtigen, um die kritisch dokumentierten Predigtnachschriften richtig beurteilen zu können. Die üblichen Verzeichnisse (Edi-tionszeichen und Abkürzungen, Literatur, Namen, Bibelstellen) beschließen den kompetent edierten Band, über dessen kompli-zierte Entstehungsgeschichte die Einleitung informiert (LXXXVI–LXXXVII). Ein Verzeichnis der Predigten gibt es nicht, weil diese detailliert im Inhaltsverzeichnis aufgeführt werden (IV–IX).
Von den 211 Predigtterminen, die Schleiermacher von 1816–1819 wahrgenommen hat, werden 120 in diesem Band dokumentiert. Dabei lassen sich immer wieder Predigtreihen feststellen, etwa die Homilienreihe zum Philipperbrief (1817–18) sowie die Predigten über den christlichen Hausstand (1818), die erstmals nach Nachschriften von Ludwig Jonas geboten werden. In 59 Fällen werden auch die Liedblätter abgedruckt, die Schleiermacher für den Hauptgottesdienst angefertigt hat. Einer der interessantesten Texte in diesem Band ist die Predigt, die Schleiermacher am 1. November 1817 zum Reformationsjubiläum gehalten hat. Sie wird sowohl in der von Schleiermacher verantworteten Druckfassung als auch anhand einer Nachschrift dokumentiert (241–259).
Die Predigten der Jahre 1816–1819 fallen in eine Zeit des Um­bruchs in Preußen. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege werden die politischen und kirchlichen Verhältnisse in Preußen neu geordnet. Schleiermacher ist in Kirche, Universität und Akademie auf Seiten der Reformbewegung in höchstem Maße engagiert. Die Spuren der Kontroversen ziehen sich nicht nur durch seine Publikationen und Briefe, sondern auch durch die Predigten dieser Jahre. Neben den homiletischen und seelsorgerlichen Aufgaben, sei nem kirchenpolitischen Engagement für die Union der beiden protestantischen Kirchen in Preußen und seiner Arbeit an der Synodalverfassung war Schleiermacher in diesen Jahren im Kirchenvorstand an den langwierigen Verhandlungen über die Renovierung der Kuppel der Dreifaltigkeitskirche intensiv beteiligt und hatte ab 1816 auch die Aufsicht über die Vermietung der Kirchenstühle übernommen. In drei Jahren konnte er die 1125 Sitzplätze fast vollständig vermieten und die Einnahmen der Gemeinde um mehr als das Dreifache steigern. Im akademischen Jahr 1815/16 war er zudem Rektor der Universität und seit seiner Wahl zum Sekretär der Philosophischen Klasse im Oktober 1814 auch an der Berliner Akademie stark beansprucht. Trotz dieser mannigfachen Verpflichtungen übte Schleiermacher sein Predigtamt an der Dreifaltigkeitskirche gewissenhaft und regelmäßig aus.
Als reformierter Prediger war Schleiermacher an keine Perikopenordnung gebunden, sondern konnte sich seine Texte für die Vormittags- und Nachmittagspredigten sowie für die vielen staatlich angeordneten Gedenkfeiern frei wählen. Nicht von ungefähr lassen sich die Predigten dieser Jahre immer wieder in Reihen gruppieren. Häufig gibt es dabei Bezüge zu den politischen und kirchenpolitischen Ereignissen dieser Jahre. Nach den Karlsbader Beschlüssen und seinem Engagement für den verhafteten Friedrich Ludwig Jahn, den Begründer der Turnbewegung, geriet Schleiermacher ins Visier der Demagogenverfolgung. Die geheime Staatspolizei ließ seine Gottesdienste ausspionieren und Protokolle über seine Predigten anfertigen. Die Predigt vom 17. Oktober 1819 kennen wir so nur aufgrund des detaillierten Berichts eines Spitzels (XXVI–XXVII).
Schleiermachers organischem Gottesdienstverständnis zufolge hatten Liturg und Gemeinde die Aufgabe, durch Predigt und Lied das gemeinsame religiöse Bewusstsein zur Darstellung zu bringen. Seit 1812 hatte er daher eigene Liedblätter für den Hauptgottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche drucken lassen, die im Lauf der Jahre »wie die Textbücher am Opernhause« verkauft wurden, durch die der Druck finanziert wurde (XXX). Seit 1817 wirkte Schleiermacher federführend an der Kommission zur Herausgabe eines neuen Berliner Gesangbuchs mit, das die rationalistischen Gesangbücher ablösen sollte und 1830 offiziell eingeführt wurde. Schleiermacher hat in dieser Zeit mindestens 144 Lieder bearbeitet, vor allem aus der herrnhutischen und baltischen Liedtradition. Nach Einführung des neuen Gesangbuchs ließ er keine eigenen Liedblätter mehr drucken.
Zur Eröffnung der Stadtverordnetenwahl, die es seit 1809 gab, hat Schleiermacher regelmäßig Gottesdienste gehalten und dabei häufig über alttestamentliche Texte gepredigt. Die Predigt vom 18. Juni 1817 über Spr 16,13–14 zeigt exemplarisch, wie Schleiermacher anhand dieses Textes das Verhältnis zwischen dem König und seinen politischen Ratgebern reflektiert (163 f.). Spätestens seit 1808 war Schleiermacher dafür eingetreten, die Kirche vom Staat zu lösen und die Konsistorien durch eine Synodalverfassung zu ersetzen. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege und längeren Auseinandersetzungen verfügte der König am 27. Mai 1816 die Bildung von Presbyterien in den Gemeinden und die Einrichtung von Kreis- und Provinzialsynoden. Schleiermacher wurde zum Präses der neuen Berliner Kreissynode berufen, die er am 11. November 1817 mit einer Predigt über Phil 3,12 eröffnete (268–273). Nachdem der König 1816 zunächst eine einmalige kirchliche Gedenkfeier für die im Krieg gegen Frankreich Gefallenen angeordnet hatte, wurde auf königliche Order in den evangelischen Kirchen Preußens am 23. November 1817 erstmals der Totensonntag als ein allgemeines Kirchfest zum Gedächtnis der Verstorbenen gefeiert. In seiner Ansprache setzt Schleiermacher seine Homilienreihe über den Philipperbrief fort, indem er anhand von Phil 3,12–14 entfaltet, dass wir, ergriffen von der Liebe des Erlösers, mit den Verstorbenen »immer noch ein gemeinsames Leben [haben], in ihm finden wir sie alle, finden wir unsere Gemeinschaft wieder.« (285) Auch in seiner Reformationspredigt am 1. November 1817 über Mt 18,5–6 legt Schleiermacher den Hauptakzent nicht auf eine lehrhafte Entfaltung des Rechtfertigungsthemas, sondern auf die praktische Aufforderung an Eltern und Lehrer, der Jugend die Wohltaten der Reformation nahezubringen und sie »zur wahren Freiheit der Kinder Gottes« zu erziehen, »die darin besteht, daß der Mensch sich ergebe ein Knecht zu sein der wahren Gerechtigkeit frei von jedem aufgeblasenen Wahn und eitlen Hochmuth.« (251) Wie in vielen anderen Predigten zeigt sich auch hier, dass es Schleiermacher nicht primär um theologische Belehrung, sondern vor allem um Herzensbildung geht. Der Glaube jedes Einzelnen soll befördert werden, das Leben zu prägen. Das ist gut für die Kirche und für den Staat.
III) Dass es in Schleiermachers Predigten zentral um die Beförderung der Herzensbildung geht, zeigt sich auch in den Predigten 1828–1829, die Patrick Weiland 2014 als Band 11 der KGA III herausgegeben hat. Der Band bietet 81 Predigten dieser beiden Jahre, davon 78 in bislang nicht veröffentlichter Fassung. Die Edition folgt dem bewährten Muster und hält das hohe Niveau der anderen Bände. Eine ausführliche Historische Einleitung erläutert den historischen Kontext der Predigttätigkeit Schleiermachers in diesen Jahren (X–XXV), der Editorische Bericht legt die Text- und Druckgestaltungsregeln dar und beschreibt die fünf Gruppen von Nachschriften, die neben Schleiermachers Druckfassungen von Predigten für kritische Edition der Predigten herangezogen wurden. Ein ausführlicher Anhang führt alle erhaltenen Liedblätter der Jahre 1816–1828 auf, die zwar datiert sind, zu denen sich aber keine Predigten mehr finden lassen. Die üblichen Verzeichnisse beschließen den Band, die Predigten sind im Inhaltsverzeichnis aufgeführt (VI–VIII).
Seit der Union der reformierten und lutherischen Gemeinde am 31. März 1822 teilte sich Schleiermacher die Predigtaufgaben mit seinem lutherischen Kollegen Konrad Marheineke. Stärker als in früheren Jahren nimmt er auf die Perikopenordnung Bezug, auch wenn er seine reformierte Unabhängigkeit von ihr immer wieder betont. Etwa ein Drittel seiner Sonntags- und Festtagspredigten orientiert sich mehr oder weniger an den Altkirchlichen Perikopen, die in Berlin galten. Weiterhin aber predigt er Homilienreihen, vor allem in der Epiphanias- und Trinitatiszeit. So steht vom 17. Juni 1827 bis zum 17. Juli 1828 der 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher im Zentrum. Hervorzuheben sind die beiden überlieferten Begräbnisreden dieser Jahre. Die eine ist die »Rede an Buttmann’s Grabe« (410–412). Buttmann hatte 1799 den Band ediert, in dem die erste gedruckte Predigt Schleiermachers erschienen war, und stand mit Schleiermacher seither in freundschaftlicher Verbindung. Die andere ist die bewegende Rede an Nathanaels Grab vom 1. November 1829 (507–512). Nathanael war das jüngste Kind von Henriette und Friedrich Schleiermacher und starb als Neunjähriger innerhalb von drei Tagen am 29. Oktober 1829 an Scharlach. Schleiermacher konnte an der Beerdigung aus persönlicher Betroffenheit kaum sprechen und hat diesen Verlust nie verwunden. Die Predigt wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht.
IV) Der letzte anzuzeigende Band enthält 59 Predigten, die Schleiermacher 1832 gehalten hat. Dirk Schmid hat sie 2014 als Band 13 der KGA auf gewohnt hohem Niveau ediert. Zwei Predigten werden zum ersten Mal publiziert (10. Juni und 1. Weihnachtstag), eine Reihe anderer Predigten dieses Jahres konnte nicht gefunden werden (22. April, 31. Mai, 26. Juni sowie Trauungen, Taufen und Begräbnisse). Gepredigt hat Schleiermacher auch in diesem Jahr im Wechsel mit Marheineke entweder im Hauptgottesdienst oder im Frühgottesdienst. Nur an drei Sonntagen stand er nicht auf der Kanzel. Bis auf einen Fall am 30. September hat sich Schleiermacher in diesem Jahr nicht an der Perikopenordnung orientiert, sondern seine Texte frei gewählt, in der Regel aus dem Neuen Tes­tament, nur einmal – am Buß- und Bettag – aus dem Alten Testament (Spr 14,34). Schleiermacher begründet diese Ausnahme zu Beginn der Predigt mit dem Hinweis auf den Bußtag (224 f.). Themenpredigten hielt er in diesem Jahr in der Epiphaniaszeit über das persönliche Verhältnis des Erlösers zum Einzelnen und in der Trinitatiszeit über die Apostelgeschichte. In den Frühgottesdiens­ten setzte er in insgesamt 22 Predigten die im August 1831 begon nene Homilie über das Markusevangelium fort und kam von Mk 2,23 bis Mk 7,30. Liedblätter hat er seit 1829 nicht mehr angefertigt, sondern das Berliner Gesangbuch von 1829 benützt, an dessen Konzeption er maßgeblich beteiligt war. Am 19. Februar predigte er am königlich verordneten Dankgottesdienst für die Befreiung von der Choleraepidemie (85–98) über Hebr 12,11–12 und gab die Predigt anschließend in den Druck. Nur drei Begräbnisreden sind aus diesem Jahr überliefert. Dass in seiner gesamten Amtszeit von 1790 bis 1834 überhaupt nur elf Grabreden zweifelsfrei belegt sind, spiegelt bei Weitem nicht die tatsächliche Zahl der Beerdi gungen, die Schleiermacher gehalten hat. In der Regel dürften die Begräbnisse aber rein liturgisch ohne Grabrede stattgefunden haben. Eine Ausnahme bilden seine Rede am 18. Mai 1832 beim Begräbnis von Karl Friedrich Zelter, dem Direktor der Berliner Singakademie (237–241), sowie seine Ansprachen bei der Beerdigung des Professors der Heilkunde an der Berliner Universität Karl Christian Wolfart (250–254) und des jungen Theologen Ludwig August Heegewaldt, der nicht nur bei Schleiermacher studiert hatte, sondern mit Luise Fischer verlobt war, die im Hause Schleiermacher als eine Art Pflegetochter lebte (266–268). Die beiden letztgenannten Begräbnisreden erschienen am 19. September 1834 im Druck, etwa sieben Monate nach Schleiermachers eigenem Tod.
Die Predigtbände sind eine Fundgrube an Informationen nicht nur für die Schleiermacherforschung. Die Textgestaltung ist übersichtlich, der Kopftext über den Predigten hilfreich und präzis, der kritische Apparat bietet in der Regel alle wesentlichen Informationen, der Sachapparat ist auf das Wichtigste beschränkt und fast nie zu umfangreich. Etwas überflüssig erscheint allerdings, dass in der Einleitung der Bandherausgeber dieselben Grundinformationen über Schleiermachers Predigttätigkeit in fast identischen Ausführungen immer wieder geboten werden. Das mag für den sinnvoll sein, der nur einzelne Bände gebraucht. Aber für jeden, der sie zusammen verwendet, sind die Wiederholungen unnötig und ermüdend. Über die Hälfte der geplanten Predigtbände sind inzwischen erschienen. Man darf auf die noch ausstehenden Bände gespannt sein. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass sich über das gebotene Material hinaus noch andere Nachschriften von Schleiermachers Predigten, Reden und Ansprachen finden lassen, liegt hier doch die definitive Ausgabe der erhaltenen Predigten Schleiermachers in mustergültiger Edition vor.