Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

517-520

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Roland M.

Titel/Untertitel:

Die Transformation des Kirchenbegriffs in der Frühaufklärung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 428 S. = Jus Ecclesiasticum, 106. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152373-1.

Rezensent:

Markus Wriedt

In den Schmalkaldischen Artikeln schrieb Luther: »Denn es weiß Gott Lob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.« (Artikel XII) Mit dieser Formulierung nahm er noch einmal seine 1520 gegen Augustin Alfeldt formulierte Ekklesiologie auf und legte so den Grund für ein geistliches Verständnis der Kirche. In dem Maße freilich, in dem die reformatorische Kirche selbst zur Organisation wurde, bedurfte es genauerer und differenzierterer Überlegungen, was die Kennzeichen der Kirche sind und wie sie von der römischen oder auch reformierten Sicht der Kirche abzugrenzen seien. Diese Tendenz bestimmte bis zum Ende der konfessionellen Orthodoxie das dogmatische Nachdenken über den dritten Artikel und seine institutionelle Fassung. Weithin blieb die materiale Ausformulierung in der Abwehr der römischen Ekklesiologie dabei in den Bahnen der von Luther und später auch von Melanchthon ausformulierten Kritik der 20er Jahre des 16. Jh.s. Mit der grundstürzenden Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges und der mühsamen Neukonstitution der verheerten Länder zur Mitte des 17. Jh.s wurde nun freilich eine Neubesinnung erforderlich. Die fraglose, sich immer noch weitgehend an spätmittelalterlichen Überzeugungen ab­arbeitende Ekklesiologie der konfessionellen Orthodoxie hatte sich den Herausforderungen pietistischer Innerlichkeit und sich aus ihr speisender Frömmigkeit einerseits und aufgeklärter Rationalität und vernunftgemäßer Darlegung der kirchlichen Lehre zu stellen. Schon längst war deutlich geworden, dass die geistliche Ekklesiologie des frühen Luther auf Dauer keine Institution be­gründen könnte. Aber wie die evangelische Kirche schlussendlich theoretisch begründet werden könnte, war immer noch ein großes Problem.
Mit seiner im Wintersemester 2011/12 in Halle eingereichten und von Ulrich Barth betreuten Dissertation greift der nun als wissenschaftlicher Assistent in Jena tätige Roland M. Lehmann diese Problematik auf. Er sieht die Frage der konfessionellen Ekklesiologie in der Frühaufklärung im interdisziplinären Bereich zwischen evangelischer Theologie und Recht angesiedelt. Insofern es auch um die Legitimation institutioneller Gestalt evangelischer Kirche geht, ist dieser Behauptung kaum sinnvoll zu widersprechen.
Die Arbeit greift die in der Tradition von Daniel Nettelbladt (1719–1791) entwickelte Gliederung von protestantischer Kirchentheorie nach ihren rechtlichen Konzeptionen in Episkopalismus, Territorialismus und Kollegialismus auf. Zugleich verweist er auf die faktische Unzulänglichkeit dieser Charakterisierung, die angesichts des vielschichtigen historischen Materials nicht ausreicht, um die wechselseitigen Beeinflussungen und Bezüge der jeweiligen Entwürfe voneinander abzugrenzen. War die Dreigliederung zunächst auch in chronologischer Abfolge notiert worden, ist rasch zu erkennen, dass die drei Entwürfe in hohem Maße gleichzeitig und nebeneinander existierten. Darüber hinaus ist auch das kirchenrechtliche Argument zu bedenken, welches die Rechtssphären der jeweiligen Entwürfe nicht auf der gleichen Ebene einzuschätzen vermag (M. Heckel). Schließlich ist die in der früheren Forschung behauptete Lösung des Kirchenrechts von der Theologie von Klaus Schlaich dekonstruiert und auf die enge Bezugnahme in Territorialismus und Kollegialismus verwiesen worden. L. nutzt darum das ältere Dreierschema zur Sichtung des historischen Ma­terials, geht aber deutlich darüber hinaus, insofern er angesichts der fortschreitenden Ausdifferenzierungen in Mischformen und in Früh- und Spätphasen davon Abstand nimmt. Er beabsichtigt die spezifischen Eigentümlichkeiten und Leistungen der jeweiligen Vertreter im Vergleich zueinander zum Vorschein zu bringen und so zu einem detaillierteren Bild des Staats- und Kirchenrechts in der Frühaufklärung zu gelangen (8).
Ausgehend von einem knappen, an den Arbeiten von Novak und Beutel orientierten Forschungsüberblick wird zunächst die Ausgangslage in England, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland in der Frühaufklärung im Fokus der Frage nach dem Verständnis der Kirche skizziert. Mit der einsetzenden Naturrechtsdebatte im ausgehenden 16. und dann vor allem im 17. Jh. sieht L. einen Impuls gegeben, der bei Hugo Grotius (1583–1645) zu einer ersten Blüte gelangt. Er entwickelt den Kirchenbegriff abstrahiert von biblischen Traditionen naturrechtlich. Seine Bestimmung des Verhältnisses von natürlichem, göttlichem und menschlichem Recht ist vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Remonstranten in den Niederlanden zu sehen. Vor dem Hintergrund der Auffassung der Superiorität des Staates über die Kirche ist die Relation von natürlichem, göttlichem und menschlichem Recht zu ergründen und so dann sein Verständnis von natürlicher Religion zu entwickeln. Dieses ist in hohem Maße von dem in einem zweiten Abschnitt erläuterten Naturrechtsverständnis des englischen Deisten Herbert von Cherbury (1583–1648) beeinflusst. L. sieht dessen Kirchenbegriff aus seinem Verständnis der natürlichen Religion heraus geleitet. Seine Charakterisierung der »wahren katholischen Kirche« durch fünf Religionsartikel entwickelt eine spirituell akzentuierte Vorstellung einer transkonfessionellen und religionsübergreifenden Geistgemeinschaft. Damit wird das Erbe des jungen Luther entscheidend transformiert und modernitätstauglich gemacht. Herbert von Cherbury entwickelt in einer Überakzentuierung des ministerium generale (Priestertum aller Gläubigen) sein Verständnis einer Laienreligion.
In den beiden Strömungen von neuzeitlichem Naturrecht und englischem Deismus sieht L. sodann den Hintergrund der weiteren Entwicklung der konfessionellen Ekklesiologie. Dafür steht zu­nächst die Civitas-Konstruktion von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) auf dem Prüfstand, die historisch vor dem Hintergrund der Reunionsbemühungen des 17. Jh.s zu sehen ist. Zur Lösung der Konfliktpotentiale von reichsrechtlicher Souveränität des Kaisers und territorialrechtlicher Autorität der Landesherren entwirft Leibniz ein Verständnis von föderativer Subsidiarität. Sie steht auch im Hintergrund seiner Unionsbemühungen, da er in Analogie zum Föderalismus die Verschiedenheit der Konfessionen wie die Verschiedenheit der einzelnen Hoheitsbereiche zu verstehen sucht.
Der vierte Teil widmet sich sodann den Überlegungen von Sa­muel von Pufendorf (1631–1694), der die Kirche stärker als Verein versteht und so das protestantische Kirchenrecht in Deutschland durch seine Sozietätstheorie nachhaltig transformiert. Er teilt mit Pufendorf dessen Wertschätzung des säkularen Souveränitätsgedankens und richtet sich gegen Bestrebungen, durch die rechtliche Aufwertung der Kirche diese in Konkurrenz zum Staat treten, zu einem »Staat im Staate« werden zu lassen. Vielmehr leitet er seine Wesensbestimmung der Kirche aus den neutestamentlichen Überlieferungen ab und sieht diese theologisch in der Formel »societas aequais et libera« gefasst. Dieser »Paradigmenwechsel in der Frühaufklärung« (184) hat Pufendorf zum »Begründer des neuen evangelischen Kirchenrechts in Deutschland« (Klaus Schlaich) werden lassen. Das liegt auch an der die eingangs bemühte Differenz zwischen Territorialismus und Kollegialismus überbietenden Offenheit seines Ansatzes, auf den sich Vertreter beider Richtungen legitimierend berufen können.
Der fünfte Abschnitt vergleicht die Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments bei dem Vertreter des frühen Territorialismus Christian Thomasius (1655–1728) und dem Vertreter des Kollegialismus Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) mit dem Ziel, die gemeinsame Ablehnung der Unterscheidung von Klerus und Laien einerseits zu rekonstruieren und andererseits wichtige Unterschiede in der Begründung von Majestäts- und Kollegialrechten herauszuarbeiten. »Während Thomasius darauf zielte, das Luthertum von Mißständen zu befreien, die durch mangelnde Umsetzung der Reformation verblieben waren (Papisterei), war Pfaff eher davon geleitet, die Kirche vor der Willkür weltlicher Herrscher zu schützen, die sich insbesondere durch deren Konfessionswechsel ergab (Cäsaropapia).« (240) Beide verstehen die Kirche als freie und gleiche Gesellschaft, sind aber in der Bewertung der Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche und dem Einflussbereich säkularer Hoheit geschieden. Sie wird an der Unterscheidung von ius in sacra und dem ius circa sacra an den Adia-phora thematisiert. Insofern Thomasius die Kirche als unsichtbare versteht, kann er ihr kein Selbstbestimmungsrecht zubilligen, wäh­rend Pfaff die Kirche stärker vereinsrechtlich versteht und hier die Sphären von Staat und Kirche deutlicher zu trennen vermag.
Der sechste Abschnitt weitet den Blick von den kirchenrecht-lichen Analysen hin zu einer Bestimmung des Verhältnisses der akademischen Theologie der Frühaufklärung am Beispiel der diesbezüglichen Äußerungen von Johann Lorenz von Mosheim (1693–1755). Dieser hat laut L. die theologische Ekklesiologie enzyklopädisch in allen Disziplinen der Theologie entfaltet. Im Unterschied zum grundlegend verwendeten Civitas-Verständnis betont Mosheim sein kirchenrechtliches Verständnis im Sinne des Kollegialismus. Damit trägt er zu einem methodischen Unterschied der verschiedenen Begründungsebenen theologischer und kirchenrechtlicher Aussagen bei.
L. beschreibt die Entwicklung der Ekklesiologie in der Frühaufklärung als Weg vom Aufkommen des Ideals einer Vernunftkirche religiös mündiger Menschen über die Annäherung von naturrechtlicher und vernunftreligiöser Begründung des Kirchenbegriffs hin zum Paradigmenwechsel vom Civitas-Gedanken zum Sozietätsbegriff. In der Folge ergeben sich Überschneidungen von Territorial- und Kollegialsystem. Im Kontext der Enzyklopädie theologischer Wissenschaften ist sodann eine Ausdifferenzierung der ekklesiologischen Grundüberzeugungen geboten, die in Ge­stalt einer aufgeklärten Christentumstheorie zum Ende des 18. Jh.s ihren vorläufigen Abschluss finden.
Auch wenn man im Detail an der einen oder anderen Interpretation Anstoß nehmen mag oder mit den zuspitzenden Charakterisierungen uneins bleibt, ist die Studie von L. ein hochwillkommener und durchaus gelungener Beitrag zu einem über lange Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg vernachlässigten Thema konfessioneller Identitätsbestimmung. Die Frage nach dem Wesen und der Eigenart der evangelischen Kirche wird bis in die Gegenwart innerhalb der Lehraussagen (Dogmatik) und auch im Grenzgebiet zwischen Theologie und Kirchenrecht selten thematisiert. Umso mehr ist die Arbeit von Lehmann all jenen zu empfehlen, die in einer sorgfältigen ersten Sichtung des historischen Materials zu einer eigenen Standortbestimmung gelangen wollen. Das Stichwort von der Christentumstheorie (Trutz Rendtorff) mag dabei Anlass und Anreiz gleichermaßen sein, die von L. vorgelegten Überlegungen im Kontext der gegenwärtigen Debatten um Säkularisation und Moderne, um frühneuzeitliche und postmoderne ekklesiologische Strukturen und diese als Indikator sozialer und kirchlicher Prozesse weiter zu entfalten. Dass diese Thematik in der dichten Darlegung von knapp 400 Seiten keinen Raum gefunden hat, ist L. nicht vorzuwerfen, sondern vielmehr ermunternd angemerkt: Die frühaufgeklärte Theologie bietet nicht nur mannigfaltige Entwicklungsstufen hin zu einer Transformation des reformatorischen Erbes in den christentumstheoretischen Überlegungen der Neologie, sondern methodische wie hermeneutische Angebote zu deren Weiterentwicklung bis in die (postmoderne) Gegenwart hinein. Mosheims enzyklopädischer Fächer ekklesiologischer An­sätze kann dabei nicht der Abschluss, sondern nur der Ausgang weiterer Differenzierungen, Klärungen und mo­dernitätstauglicher Anstöße sein.