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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

513-515

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hofmann, Andrea

Titel/Untertitel:

Psalmenrezeption in reformatorischem Liedgut. Entstehung, Gestalt und konfessionelle Eigenarten des Psalmliedes, 1523–1650.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 352 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 45. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04065-0.

Rezensent:

Konrad Klek

Schon die Tatsache, dass Martin Luther das Psalmlied als Gattung erfunden hat, mit dem Genfer Psalter das Psalmlied aber zur Identitätsmarke der Reformierten wurde, lässt darauf schließen, dass der Gegenstand dieser Heidelberger Dissertation von Andrea Hofmann ergiebig sein dürfte für das Fach Kirchengeschichte, erhellend für die Fragestellung »Interkonfessionalität und konfessionelle Profilierung im 16. und 17. Jahrhundert« (14). 50 Jahre nach Luther ist es dann ein »Lutheraner« (A. Lobwasser), der den reformierten französischen Psalter ins Deutsche übersetzt und damit den deutschen Reformierten zu ihrem Gesangbuch für über zwei Jahrhunderte verhilft, damit aber auch lutherische Anti-Lobwasser-Dichtungen provoziert (z. B. C. Becker 1602). Überkonfessionell konzipierte, poetisch ambitionierte Liedpsalter im Gefolge von M. Opitz (1637) stehen am Ende des untersuchten Zeitraums, der noch weit mehr Pfade der Psalmlieddichtung (auch bei Katholiken und Schwärmern) bereithält, welche hier erstmals umfassend vorgestellt werden. Als Zeitabschnitte separiert sind I: 1523–1572 »Herausbildung und erste Verbreitung einer neuen reformatorischen Gattung«; II: 1572–1618 »Der Siegeszug des Genfer Psalters im deutschsprachigen Raum. Rezeptionen und Reaktionen«; III: 1618–1650 »Psalmlied im Schatten des Krieges und der Dichtungsreform«.
Da es sich je länger je mehr um komplette Liedpsalter mit Übertragungen aller 150 Psalmen handelt, ist die Materialfülle enorm. H. wählt wenige Psalmlieder als Vergleichstexte, um daran jeweils die Spezifika aufzuzeigen. Die Auswahl mit den Psalmen 2, 6, 12, 22, 23 und 79 ist sinnvoll, da sich hieran exemplarisch die Essentials Christologie, Bußthematik, »Polemik« gegen die Feinde profilieren lassen. Die Hinweise zum persönlichen und zeitgeschichtlichen Kontext der Autoren, zur Präsentationsform der Lieder (z. B. mit »Argumentum«) sind jeweils präzise und hilfreich. Die zahlreichen und umfänglichen Fußnoten belegen gründlichste Recherche. Aus Platzgründen sind allerdings auch die Beispiel-Liedtexte in den Apparat ausgelagert worden, was dem Hymnologen ein Gräuel ist und auch den kategorialen Unterschied zwischen Quellenpräsentation und Kommentierung verwischt. Eine über einseitige Fußnote wie Nr. 858 (239) mit völlig unübersichtlicher Gegenüberstellung einzelner Liedstrophen (Übertragungen derselben Psalm-verse) ist ein Unding; Quellenpräsentation mittels beigelegter CD-ROM wäre da naheliegend.
Der Psalmliederpräsentation vorgelagert ist ein Kapitel »Exegese, Stellenwert und musikalische Gestalt der Psalmen bei Martin Luther, Huldrych Zwingli, Martin Bucer und Johannes Calvin«. Hier geht es also um den Mutterboden des Psalmlieds bei den Reformatoren selbst im Geflecht der jeweils spezifischen Koordinaten in Wittenberg, Zürich, Straßburg und Genf. Erhellend sind vor allem die Untersuchungen zu Zwinglis Stellungnahmen zum Kirchengesang und die Analyse seines eigenen Lieds zu Psalm 69 sowie das genaue Referat der Schriften Bucers zur Psalmenexegese wie zur Musik im Straßburger Gottesdienst. So wird trennscharf deutlich, wie Zwingli zur Ablehnung des Gesangs im Gottesdienst kommt, Bucer aber die konstitutionelle Verankerung des Gemeindeliedes im Gottesdienst als Psalmlied betreibt, was dem Straßburger Exulanten Calvin dann zur prägenden Erfahrung wird.
Unbefriedigend sind aber die Ausführungen zu Luther, auf acht Seiten beschränkt – doppelt so viele sind es bei Zwingli. Auch wenn gewiss zu Luthers Liedern schon viel geschrieben wurde, die Fragestellung Psalmlied hätte beim Erfinder des Psalmlieds eine gründliche Relektüre der Lieder wie der sonstigen Quellentexte verdient. Von Luthers Liedern wird nur das zu Psalm 12 (»Ach Gott, vom Himmel sieh darein«) besprochen. Es erfolgt keine Reflexion über die Auswahl der von Luther übertragenen Psalmen oder über den Unterschied von »Ein feste Burg« zu den übrigen. Psalmlieder und sonstiges Liedschaffen Luthers werden nicht gegeneinander profiliert. Die Einordnung in die ersten Gesangbuchdrucke ist nicht Thema, so dass die Unterschiede zur Straßburger/Genfer Entwicklung auch nicht genügend scharf hervortreten. Der für die Psalmliedfrage so ergiebige Brief Luthers an Spalatin (Ende 1523) mit dem Aufruf zum Psalmlied-Dichten wird nur kurz referiert, nicht kritisch kommentiert und ausgewertet.
So tappt H. gerade bei Luther in die Falle der Lehrbuch-Platitüde, indem sie die Psalmliederfindung pauschal in den Kontext der Überlegungen zu einem deutschen Gottesdienst stellt. Vom Gottesdienst ist im Spalatin-Brief aber überhaupt nicht die Rede. Es geht um die tägliche Bußpraxis mit Bußpsalm-Liedern. Nicht in den Blick kommt der Konnex zum Betbüchlein 1522, wo vor anderen Psalmen gerade Psalm 12 »zu beten um Erhebung des heiligen Euangelions« präsentiert wird, woraus dann Luthers in der Breitenwirkung besonders wirkmächtiges Psalmlied erwächst. Hier rächt sich die Missachtung von hymnologischer Basisliteratur (M. Rößler, Liedermacher im Gesangbuch, 2001). Nicht haltbar ist so auch die Entgegensetzung im Ergebnis der Arbeit: Bei Luther sei das Psalmlied Verkündigung, bei Calvin aber Gebet. Das Psalmlied Luthers ist gerade auch flehentliches Gebet des Volkes um Durchsetzung des Evangeliums gegen dessen Feinde, völlig unabhängig von liturgischen Kontexten. Die von H. hier gewählte Deutekategorie »Polemik« wäre kritisch zu hinterfragen: Wann und inwiefern ist ein Gebet polemisch?
Eine weitere Entgegensetzung Luther – Calvin gründet H. auf Luthers spätere Ausführungen (1538) zu Musik als Verkündigung (44 f.). Das ist gewiss richtig, trägt aber für die Bestimmung des Liedgesangs und speziell des Psalmliedes nichts aus. Als dezidiert falsch muss schließlich die konstruierte Polarität bei den Melodien gebrandmarkt werden: Eigenen, liturgiefähigen Melodien beim Genfer Psalter nach den strengen Vorgaben Calvins stünden Übernahmen aus dem Volksliedbereich bei Luther & Co gegenüber. Schon bei den ersten Psalmliedern Luthers zu Psalm 12 und 130 lässt sich belegen, wie wichtig ihm das Prinzip »eigene Melodie« war im Sinne eines möglichst stimmigen Wort-Ton-Verhältnisses, damit Gott das so artikulierte »Seufzen« auch erhört. Dazu gibt es ebenfalls hymnologische Basisliteratur (Bubmann/Klek, Die Evangelischen und ihre Lieder, 2012).