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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

937 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Anzenbacher, Arno

Titel/Untertitel:

Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1997. 247 S. gr.8 = UTB für Wissenschaft. Kart. DM 34,80. ISBN 3-506-98508-6.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Dieses Lehrbuch bietet eine klare, übersichtliche Darstellung der katholischen Soziallehre. Dabei setzt es die innerhalb der katholischen Ethik übliche Unterscheidung zwischen Moraltheologie und christlichen Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften voraus und beschränkt sich seinerseits auf sozialethische Grundlagenfragen. Das Buch räumt ein, daß in der katholischen Soziallehre zur Zeit konzeptionelle Unklarheiten bestehen - und zwar insofern, als der Aufbruch, das aggiornamento des II. Vatikanums in der katholischen Kirche inzwischen zurückgenommen werde und, davon abgesehen, die katholische Soziallehre selbst bislang keine durchweg überzeugende Antwort auf die Modernisierungsschübe der Gegenwartsgesellschaft gefunden habe (155 ff.). Damit verdeutlicht das Lehrbuch, daß in der katholischen Ethik eine "Krise" (157) bzw. erhebliche Grundlagenprobleme nicht nur auf Seiten der Moraltheologie - vor allem seit Humanae vitae (1968) und den Debatten zur autonomen Moral -, sondern auch im Rahmen der Soziallehre vorhanden sind. Zur innerkatholischen Frage einer Zuständigkeit des kirchlichen Lehramtes für Aussagen der Sozialethik plädiert das Buch für "dialogorientierte Verfahren" (177). Freilich läßt sich nicht verkennen, daß diesem Leitbild innerkirchlicher dialogischer Urteilsfindungen neuere Äußerungen des Vatikans, z. B. aus dem Jahr 1998 das Motu proprio "Ad tuendam fidem", diametral entgegenstehen.

Der Aufbau und die Gedankenführung des Lehrbuches sind transparent und gut nachvollziehbar. Das 1. Kapitel enthält begriffliche Klärungen zum Verständnis von Ethik bzw. Sozialethik und legt exegetische und philosophische/sozialphilosophische Rahmenbedingungen der katholischen Soziallehre dar. Sozialethische Argumentationen sollen sach- bzw. wirklichkeitsorientiert und bereichsbezogen erfolgen (29). Das 2. Kapitel bringt in einem breiteren Überblick kultur- und geistesgeschichtliche Entwicklungstendenzen der Moderne zur Sprache. Der Vf. beschreibt die Segmentierung bzw. Differenzierung der modernen Gesellschaft als eine Voraussetzung, die für die heutige Sozialethik unhintergehbar ist. Zugleich bietet er eine instruktive Übersicht über heutige sozialphilosophische Theorien in Form kurzer Einzeldarstellungen zu Rawls, Buchanan, Luhmann, Habermas, zum Kommunitarismus und zur Postmodernedebatte. Das 3. Kapitel gibt die Entwicklung katholischer Sozialethik im 19./20. Jahrhundert, insonderheit seit der grundlegenden Enyklika Rerum novarum von 1891 wieder. Im 4. Kapitel werden die Prinzipien der katholischen Soziallehre - und zwar schwerpunktmäßig die Begriffe Personalität, Solidarität und Subsidiarität - behandelt, mit einem Ausblick auf heute relevante Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffes.

Nun können hier keine Einzelheiten des Lehrbuches vorgestellt oder diskutiert werden. Statt dessen seien zwei einzelne Gesichtspunkte erwähnt.

1. Der Vf. hebt hervor, daß die differenzierten, komplexen Gesellschaftsstrukturen der Moderne als Rahmenbedingung der christlichen Soziallehre zu gelten haben. Dieser Sachverhalt sei auch deswegen akzeptabel, weil "das Projekt der Moderne" seinerseits mit auf christlichen Leitmotiven aufruhe (123 f., 41). Ein vormodernes Selbstverständnis christlicher Ethik oder einen Rückschritt hinter den modernen, weltanschaulich neutralen Staat lehnt das Buch damit ab. Gleichzeitig wird es als genuine Aufgabe der Ethik dargelegt, innerhalb der modernen, weltanschaulich pluralen Gesellschaft auf den Stellenwert von Wert-, Sinn- und Orientierungsfragen und auf die Erfordernisse einer humanen Bildung aufmerksam zu machen (90-96, 207). Solche Überlegungen gehen von der Pluralität und Säkularität als Merkmal der heutigen Kultur und des modernen Staates aus und rücken, darauf bezogen, eine ethische Bildungsverantwortung von Philosophie, Religion, Staat oder Medien ins Licht. Diesem Gedankengang ist nachdrücklich zuzustimmen. Auf Seiten der evangelischen Ethik sind Reflexionen zur ethischen Bildungsverantwortung in der säkularisierten, weltanschaulich pluralen Kultur während der letzten Jahrzehnte insgesamt sicherlich zu stark zurückgetreten.

2. Als normative Prinzipien der katholischen Soziallehre stellt der Vf. besonders die Begriffe Personalität, Solidarität und Subsidiarität heraus (178-224). Indem diese Prinzipien auf der Verknüpfung christentumsgeschichtlicher und theologischer Einsichten mit anthropologischen und philosophischen, rationalen Argumenten basieren, kommt ihnen innertheologisch, aber zugleich vor allem für außertheologische Diskurse hohe Plausibilität und Kommunikabilität zu. Die Begründung und Entfaltung dieser Prinzipien der katholischen Soziallehre ist daher ebenfalls für die evangelische Ethik von Interesse. In der derzeitigen katholisch-sozialethischen Debatte wird überdies eine Erweiterung der überlieferten Prinzipien der Soziallehre um ein weiteres Prinzip, nämlich das der Nachhaltigkeit oder der Retinität, vorgeschlagen. Dieses Anliegen haben sich jüngst z. B. auch die deutschen katholischen Bischöfe in der Erklärung "Handeln für die Zukunft der Schöpfung" vom 22. Oktober 1998 zu eigen gemacht (dort Nr. 127-143). Das Leitbild bzw. der Wertbegriff der Nachhaltigkeit wird in dem vorliegenden Buch noch nicht näher erörtert. Die neuere Debatte zur Nachhaltigkeit bietet aber eine gute Veranschaulichung dafür, daß die sozial-ethischen "Prinzipien" bzw. die Wertbegriffe, die das Lehrbuch vorstellt, in der Tat gehaltvoll sind und konstruktiv fortentwickelt werden können.