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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

512-513

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Chapman, Mark D.

Titel/Untertitel:

Theology and Society in Three Cities.

Verlag:

Berlin, Oxford and Chicago, 1800–1914. Cambridge: James Clarke and Co. 2014. 160 S. Kart. £ 25,00. ISBN 978-0-227-67989-0.

Rezensent:

Benjamin Dahlke

Mögen Theologen auch einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitszeit am Schreibtisch verbringen, so sitzen sie doch nicht in jenem sprichwörtlichen Elfenbeinturm. Vielmehr leben und denken sie in konkreten Kontexten, durch welche sie hinwiederum geprägt und bestimmt werden. Entsprechend ist die Theologie unweigerlich kontextbezogen. Diesen Umstand zu berücksichtigen, bedeutet keineswegs, Geltungsansprüche mittels strikter Historisierung zu entschärfen und jedweden systematischen Zugang von vornherein zu relativieren. Um die Genese von Entwürfen zu wissen, kann eher dabei helfen, diese in ihrer jeweiligen Eigenart zu verstehen. Einer solchen Auffassung ist zumindest Mark D. Chapman, Professor an der Universität Oxford. Dort hat er im Jahr 2013 die Hensley Henson lectures gehalten. Aus ihnen ist vorliegende Monographie erwachsen. Sie ist überlegt komponiert, überaus lesbar und angenehm konzentriert.
Ch. untersucht die Interaktion von theologischer Reflexion und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im 19. und frühen 20. Jh. anhand dreier Universitäten, nämlich Berlin, Oxford und Chicago. Er favorisiert dabei einen stärker institutionen- denn personengeschichtlichen Zugang; strukturellen, bildungs- und hochschul-organisatorischen Aspekten gilt besondere Aufmerksamkeit, ohne dass die Ideen- gegenüber der Realgeschichte abgewertet würde (1–10). So identifiziert Ch. die wachsende Erkenntnis menschlicher Autonomie und das historische Bewusstsein als Herausforderungen für die damalige Theologie (10–16). Verbindend ist zudem die allmähliche Lösung des Faches aus seiner engen kirchlichen Bindung. Obwohl die Ausbildung von Geistlichen unverändert zu den universitären Aufgaben zählte, konstituierte sich die Theologie eher im kritischen Gegenüber zur Kirche samt ihrer Überlieferung statt in Affirmation all dessen. Trotz dieser länderübergreifenden Gemeinsamkeiten ergaben sich ganz verschiedene Ansätze, und das aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexte.
Was Berlin anbelangt, ist die militärische Niederlage Preußens gegen Napoleon der Ausgangspunkt (19–37). In der Folge kam es zu einer umfassenden Modernisierung des Landes, etwa durch die Gründung einer Universität in der preußischen Hauptstadt. Wichtige Impulse gingen dabei von Friedrich Schleiermacher aus. Durch ihn erlangte die Theologie große öffentliche Bedeutung. Beispielsweise setzte sich Schleiermacher für die Union von Lutheranern und Reformierten ein, wie sie das Königshaus favorisierte (39–41).
Ähnlich stark durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen war die theologische Reflexion in England bestimmt. Die dortige Staatskirche nahm erheblichen Einfluss auf das Bildungswesen, von den Schulen bis hin zu den beiden Universitäten in Oxford und Cambridge (43–77). So waren viele der fellows anglikanische Geistliche. Es ging um mehr als bloße Wissensvermittlung; die Studenten sollten als moralische Persönlichkeiten geprägt werden. Dem diente das Tutorensystem, das in Oxford erst im 19. Jh. richtig eingeführt wurde (50). Zu seinen Verfechtern zählte namentlich John Henry Newman. Allerdings lösten sich die engen Verbindungen zwischen der Church of England und der Universität Oxford zunehmend (77). In Reaktion auf die traditionskritische Theologie, die sich mit der Zeit herausgebildet hatte, etablierte die Kirche eigene Strukturen und Examina.
Von noch einmal anderem Zuschnitt war die Theologie in Chicago, einer pulsierenden, modernen Großstadt (79–98). Durch das rasante Bevölkerungswachstum und die Industrialisierung stellten sich indes erhebliche soziale Schwierigkeiten ein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die Universität, finanziell massiv gefördert durch den Baptisten John D. Rockefeller, von Anfang an großen Wert auf die Verbindung von Theorie und Praxis legte. Die Soziologie erlangte entsprechend hohe Bedeutung, und das auch in der Divinity School. Für deren Studenten waren Praktika integraler Ausbildungsbestandteil (94 f.). Dabei drohten Sozialarbeit und kirchlicher Dienst freilich beinahe ununterscheidbar zu werden (98).
Mit dieser Monographie hat Ch. einen profunden, methodisch innovativen Beitrag zur neueren Theologiegeschichte vorgelegt. Stellenweise ist freilich neuere Sekundärliteratur beizuziehen: in Bezug auf Chicago etwa Gary Dorriens mehrbändige Darstellung The Making of American Liberal Theology, für Berlin die Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010 sowie die Forschungen von Johannes Wischmeyer. Speziell was Schleiermacher betrifft, wäre zudem eine Zitation nach der Kritischen Gesamtausgabe wünschenswert gewesen.
Es geht Ch. um mehr als um bloße Theologiegeschichtsschreibung. Er konturiert eine Theologie, die kontextsensibel und öffentlich relevant ist – Ch. spricht von einer sociological theology, die er strikt offenbarungsbezogenen Entwürfen gegenüberstellt (12–16. 99–106). Damit ist eine virulente Frage berührt, die der Vertiefung lohnt, nämlich inwieweit Systematische Theologie historisch verfahren kann oder sogar muss.