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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

505-507

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Liebenberg, Roland, Raschzok, Klaus, Schneider-Ludorff, Gury, u. Matthias Honold[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonissen für Amerika. Sozialer Protestantismus in internationaler Perspektive im 19. Jahrhundert. Quellenedition. Hrsg. im Auftrag d. Löhe-Kulturstiftung Neuendettelsau.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. XCVII, 519 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03065-1.

Rezensent:

Ruth Albrecht

Dieser Band ergänzt die sich mehrenden Studien zur Sozial- und Diakoniegeschichte des 19. Jh.s um eine Edition, die einen spezifischen Ausschnitt der Kontakte zwischen Deutschland und Amerika beleuchtet. Im Zentrum der edierten Quellen stehen auf der einen Seite Wilhelm Löhe (1808–1872), das fränkische Diakoniezentrum in Neuendettelsau mit seiner 1854 gegründeten Diakonissengemeinschaft und auf der anderen Seite nordamerikanische lutherische Gemeinden, die sich zur Iowa-Synode zusammenschlossen. Das Bild der Bemühungen Löhes und der Neuendettels­auer Einrichtungen um die Unterstützung der im Nordosten Amerikas siedelnden deutschen Lutheraner wird nun ergänzt um die Dokumentation der Rolle, die die Idee des Diakonissenwesens bei der Ausgestaltung des kirchlichen Lebens in den Einwanderersiedlungen der zweiten Hälfte des 19. Jh.s spielte. Genau genommen schildern die 106 zum Abdruck gebrachten Dokumente und ihre Interpretation die Geschichte eines Scheiterns, das sich von 1852 bis 1880 verfolgen lässt.
Von Neuendettelsau reisten in diesem Zeitraum nur wenige Frauen in die USA aus, um dort als Diakonissen Pionierarbeit zu leisten. Aus unterschiedlichen Gründen gaben diese wenigen je­weils nach kurzer Zeit ihre Aufgabe auf. Eine Anstaltsdiakonie nach dem Vorbild Neuendettelsaus ließ sich in dieser Phase der amerikanischen Kirchengeschichte und der politischen Geschichte der USA an keinem Ort aufbauen. Gerade die sehr sorgfältige Nachzeichnung der historischen Umstände an jedem Ort ergibt differenzierte Einblicke in das kirchliche Leben im Kontext einer multikulturellen bzw. multireligiösen Umgebung. Die vier Herausgeber sind eng mit Neuendettelsau und dem Werk Löhes verbunden: Roland Liebenberg leitet die Löhe-Forschungsstelle, Klaus Rasch zok lehrt Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule, Gury Schneider-Ludorff vertritt hier das Fach Kirchengeschichte und Matthias Honold leitet das Archiv von Neuendettelsau.
Die in der Edition wiedergegebenen Texte beruhen zum Teil auf ungedruckten handschriftlichen Quellen, teilweise auf auszugsweisen Nachdrucken von Rundbriefen und Mitteilungen, mit denen die Neuendettelsauer Zentrale Informationen aus und für Amerika verbreitete. Die meisten Schriftstücke beleuchten den Zeitraum der späten 1860er und frühen 1870er Jahre. Die politischen Ereignisse des amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) einerseits und des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 andererseits beeinflussten die Dichte des Austausches sowie die Realisierung der geplanten diakonischen Projekte. Der Tod Wilhelm Löhes im Jahr 1872 bedeutete keinen entscheidenden Einschnitt für den Kontakt zwischen den lutherischen Gemeinden in Amerika und Neuendettelsau. Ein Großteil der Korrespondenz bezieht sich auf Toledo, wo die lutherischen Gemeinden ein Waisenhaus betrieben und in Verbindung damit anstrebten, ein Diakonissenmutterhaus zu gründen.
Die Einleitung unterteilt die Quellen in fünf Abschnitte – im Editionsteil findet sich diese Untergliederung nicht wieder. Die erfolgreiche Missionsarbeit der katholischen Kirche in den USA, an der auch Ordensfrauen beteiligt waren, führte Löhe zu der Idee, auf lutherischer Seite ebenfalls Frauen an der Mission zu beteiligen. Ihm schwebten zunächst nach katholischem Vorbild »female acad­emies« (9) vor, die höhere Bildung an deutsche evangelische Frauen vermitteln sollten (ep. 1–6). Diese Überlegungen wurden nur kurzfristig verfolgt. Die zweite Phase der Bemühungen darum, »Arbeiten für die verschiedenen Zweige der barmherzigen Liebe« (90) im amerikanischen Luthertum zu verankern, besteht in der Aussendung von fünf Diakonissen aus Neuendettelsau nach Amerika (ep. 7–16). Alle beendeten ihren Dienst nach kurzer Zeit – aus unterschiedlichen, aber strukturell ähnlichen Gründen. Zum jeweiligen Rückzug trug bei, dass die Strukturen der Arbeit unklar waren und Finanzmittel fehlten. Löhe schreibt etwa einem seiner Korrespondenzpartner: »Eine Diakonissin ist ja keine deutsche Magd« (271). 1870 gründeten die vom fränkischen Luthertum inspirierten Pastoren eine Gesellschaft für Werke der Barmherzigkeit und läuteten damit eine neue Epoche der lutherischen Diakoniegeschichte auf amerikanischem Boden ein (ep. 17–79). Den Gemeinden der Ohio-Synode gelang es, ein bereits bestehendes Waisenhaus als gemeinsame Aufgabe fortzuführen, die Errichtung eines Diakonissenmutterhauses in Toledo hingegen konnte nicht realisiert werden. Nachdem sich gezeigt hatte, dass die Entsendung von Diakonissen aus Deutschland keine adäquate Antwort auf den Bedarf an geregelter diakonischer Arbeit in den lutherischen Ge­meinden Amerikas darstellte, wurde als letztes Modell der Versuch unternommen, eine in den USA beheimatete junge Frau in Neuendettelsau auszubilden (ep. 80–103). Sie sollte befähigt werden, nach ihrer Rückkehr eine Diakonissengemeinschaft nach Neuendettelsauer Vorbild in Amerika zu gründen. Die bisherigen Bemühungen hatten allen Beteiligten verdeutlicht, dass die Unterschiede zwischen amerikanischen Anforderungen und dem in Deutschland Bewährten stärker berücksichtigt werden müssten. Auch diese Initiative, der sich Anna Lutz zur Verfügung stellte, misslang. Nach erheblichen Schwierigkeiten gab sie ihre Aufgabe zurück und heiratete einen der lutherischen Pastoren. Die letzten Stücke der Korrespondenz (ep. 104–106) beleuchten finanzielle Transaktionen zwischen Neuendettelsau und dem Verband der lutherischen Gemeinden für die Werke der Barmherzigkeit. In dem hier dokumentierten Zeitraum von 30 Jahren konnten nur rudimentäre Ansätze umfassender Pläne für eine lutherische diakonische Arbeit unter weiblicher Verantwortung umgesetzt werden.
Diese Edition beleuchtet eindringlich die schwierigen Umstände des Aufbaus lutherischer Kirchenstrukturen unter amerikanischen Bedingungen, die andere Modelle erforderten als die der Herkunftsländer. Die konfessionelle Konkurrenz, vor allem die Ab­grenzung gegen Katholiken und Methodisten, ließ den Wunsch wachsen, auch auf lutherischer Seite Frauen verstärkt in die Gemeinde- und Missionsarbeit einzubinden. Die letztlich gescheiterten Anläufe der hier beschriebenen Lutheraner gehören in den Kontext ähnlicher Modelle. Den Bemühungen, von Neuendet-telsau aus Formen der weiblichen Diakonie, die in Deutschland große Anerkennung gefunden hatten, in Amerika heimisch zu machen, gingen seit 1849 Versuche der Kaiserswerther Diakonie voraus. Erst 1884 entstand auf amerikanischem Boden in Philadelphia ein eigenständiges Diakonissenmutterhaus.
Das gesamte Werk besticht durch seine Sorgfalt: Neben der Einleitung sind auch die kurzen Inhaltsangaben zu den Briefen ins Englische übersetzt worden. Das umfangreiche Register (456–519) verwirrt gelegentlich durch seine Kleinteiligkeit. Nach der Lektüre dieser instruktiven Quellensammlung und der historisch-theologischen Kommentierung bleibt eine Irritation in Bezug auf den Titel. Zum einen weckt er Erwartungen, die das Buch nicht bedient: nämlich vornehmlich etwas über Diakonissen und Diakonissenmutterhäuser in Amerika zu lesen. Diese Spur legen auch die Fotos auf dem Umschlag nahe. Zum anderen verbirgt der Titel, dass hier Neues über Löhe und die Neuendettelsauer Arbeit in den Gemeinden der USA zu erfahren ist.