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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

501-503

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht, Kuhn, Thomas K., u. Markus Wriedt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glaube und Vernunft. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte des späten 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 330 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 41. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-03627-1.

Rezensent:

Frank Stückemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Francke, August Hermann: Tagebuch 1714. Hrsg. v. V. Albrecht-Birkner u. U. Sträter in Zusammenarbeit m. C. Wessel u. V. Franke. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. LXVI, 252 S. m. 1 Abb. = Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 13. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-447-10124-0.


Seit 2001 besteht der jährlich in Wittenberg tagende Arbeitskreis »Religion und Aufklärung«, der zu einem wichtigen Forum für unterschiedliche Fragen der theologischen Aufklärungsforschung geworden ist. In den vergangenen Jahren sind drei Sammelbände aus diesen Tagungen hervorgegangen, die sich den Schwerpunkten »Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen Umformung des Christlichen«, »Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirchen und Religion in der Aufklärungszeit« sowie »Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Theologie- und Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts« widmen. Der hier anzuzeigende vierte Band ist vermutlich der thematisch disperateste. Er dokumentiert Vorträge der Jahre 2010 bis 2012, die der theologischen Frühaufklärung, den Schul- und Bildungskonzeptionen der Aufklärung und schließlich religionspraktischen Reformvorschlägen gewidmet waren.
Diese sehr unterschiedlichen Themen werden in dem Band, dem man ein die Sachzusammenhänge bündelndes Vorwort der Herausgeber gewünscht hätte, in vier Themenblöcken präsentiert.
Unter dem Stichwort »Bildung, Schule und Universität« sind sieben Beiträge versammelt. Thomas K. Kuhn beschäftigt sich mit »(Religions)Pädagogische[n] Diskursen im Journal für Prediger« (13–35) und betont das praxisorientierte, auf Nützlichkeit des Pfarramtes sowie pädagogische wie institutionelle Reformvorhaben konzentrierte Profil dieser Zeitschrift, die ein »Schlüsselmedium« (34) der theologischen Aufklärung darstellte. Hans-Günter Heimbrock würdigt »Religionspädagogische Bemühungen im Horizont der Aufklärung« (36–46) und stellt dabei Christian Gotthilf Salzmanns Verdienst in den Mittelpunkt, »am Ende des 18. Jahrhunderts als erste[r] Kindheit als eigenständige menschliche Entwicklungsphase systematisch thematisiert zu haben« (41). »Die Krise der Franckeschen Stiftungen« sowie »Studentisches Selbstbewusstsein und Selbstverständnis in der Frühaufklärung« behandelt Malte von Spankeren in seinen beiden Beiträgen (47–66 und 117–126). Das Verhältnis von »Staat und Schulaufsicht« thematisiert Dirk Fleischer (57–76). Am Beispiel unterschiedlicher reformpädagogischer Autoren kann er plausibel nachweisen, wie stark sich bereits hier der Gedanke einer »zunehmenden Autonomisierung der Kultur ge­genüber der Religion bzw. der Kirche« (76) feststellen lässt. Nicht nur theologie-, sondern auch literaturgeschichtlich von Interesse ist Michael Thieles innovativer Vergleich »Der pietistische Schulmeister, der aufgeklärte Hofmeister« (77–96), der Lenz’ dramatisches Debüt »Der Hofmeister« von 1774 in Beziehung zu Brechts Bearbeitung aus dem Jahr 1950 setzt: »Lenz’ Drama ist ein Abgesang auf das aufgeklärte Hofmeistertum, Brechts Drama ein Abge-sang auf die aufgeklärte Schulmeisterei« (96). Eine universitätsgeschichtliche Perspektive liefert schließlich Christoph T. Nooke, der sich unter dem Titel »Aufgeklärte Universität?« (97–116) dem Gründungskonzept der Göttinger Universität zuwendet.
Drei Beiträge widmen sich unter den Stichworten »Gottesdienst, Homiletik, Kasualien« klassischen Themen der Praktischen Theologie. Das Verhältnis von Homiletik und Histrionik ist unter dem Titel »Das aufgeklärte Herz, die aufgeklärte Empfindung, der aufgeklärte Verstand« (129–153) Gegenstand eines weiteren Beitrages von Michael Thiele. Der »Idee des ›empfindsamen‹ Gottesdiens­tes« (154–174) geht Andres Straßberger nach, indem er am Beispiel des Philanthropins in Dessau und der Erziehungsanstalt Schnepfenthal die Umsetzung verschiedener homiletischer wie liturgischer Reformideen durch Salzmann seit 1781 bzw. 1784 vorstellt. Spannend liest sich Thomas K. Kuhns Aufsatz »Vom Kirchhof zum Todtengarten. Die Bestattung in der Kritik der späten Aufklärung« (175–190). Hier spielten religionspraktische Reformvorschläge, althergebrachte Bestattungsrituale und volkspädagogische Absichten eine entscheidende Rolle, stießen dabei aber auf erhebliche, zum Teil auch skurril anmutende Widerstände. So musste Friedrich Gedike etwa 1785 der Vorstellung entgegentreten, »daß die Nähe eines heiligen Körpers und die Ausdünstungen desselben irgend einen wohltätigen Einfluß auf ihn noch im Tode haben könnten, […] um vielleicht an seiner Heiligkeit auf irgend eine Art zu participiren« (182).
»Religion und Theologie« ist der dritte thematische Block überschrieben. Die Beiträge von Rolf Schäfer und Dirk Fleischer widmen sich dem Thema Religion und Gefühl. Schäfer bietet einen instruktiven Vergleich über »Religiöses Gefühl bei Melanchthon und Spalding« (195–202). Er stellt in einer sicherlich provokanten Zuspitzung, dass Spalding in der Frage des Verhältnisses von »Gewissensschrecken und Gnadentrost« den »Sieg davon getragen hat« (202), sogar die Frage, ob damit nicht die Reformation »gescheitert« sei. Schäfer löst diese Gegenüberstellung aber sofort wieder auf, indem er darauf verweist, dass die Aufklärung letztlich auch hier »die Konsequenz aus der Reformation« (ebd.) gezogen habe. Fleischer verfolgt dieses religionstheoretisch grundlegende Verhältnis »Religion und Gefühl« am Beispiel von Andreas Riems 1793 erschienener Schrift »Reines System der Religion für Vernünftige« (203–219). Volker Leppin nähert sich unter der Überschrift »Der wirkende Gott« (220–231) den Versuchen eines Gottesbeweises durch den Jenaer Gelehrten Erhard Weigel (1625–1699). Ein weiterer Beitrag von Dirk Fleischer (232–249) bemüht sich um die Einordnung von Humfred Dittons Schrift über die »Wahrheit der christlichen Religion«. 1712 erstmals erschienen, geht es diesem Werk in der Auseinandersetzung mit dem Deismus um den Nachweis der Historizität der biblischen Auferstehungsberichte. In Deutschland ist es besonders von Mosheim einer Kritik unterzogen worden. Abschließend widmet sich Christina Reuter dem Thema. »›Traut dem Menschen Menschheit zu, so wird er Mensch seyn‹. Lavaters Haltung gegenüber den Juden im zweiten Band des Pontius Pilatus nach seiner Rezeption von Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« (250–272).
Schließlich sind dem Band unter der vierten und letzten Rubrik »Lebenswelten« zwei sehr unterschiedliche Beiträge beigefügt. Reinhold Rieger verfolgt in »China und die Frühaufklärung« (275–301) die Beschäftigung von Leibniz, Wolff und Bilfinger mit den besonders durch die jesuitischen Missionare verbreiteten Kenntnissen über China. Alle drei nutzten das, »was sie mit ihrer eigenen Begrifflichkeit als chinesische Philosophie auffassten, als Reflexionsfläche, um ihre eigenen Anschauungen am Fremden zu spiegeln und so zu bestätigen« (301). Angelika Dörfler-Dierkens Beitrag analysiert unter dem einem Soldatenlied aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges entnommenen Titel »Friederikus ruft, unser König: Allons, frisch ins Gewehr« die »Formierung einer opferbereiten Erregungsgemeinschaft« (302–322). Hinter dem etwas kryptischen Titel verbergen sich instruktive Überlegungen über die religiösen Prägungen eines spezifisch preußischen Staatspatriotismus.
Insgesamt belegt der mit Gewinn zu lesende Sammelband eine Vielfalt von Forschungsperspektiven für die Kirchen- wie Theologiegeschichte der Aufklärung. Man darf sich deshalb auf weitere Tagungsberichte aus Wittenberg freuen.

Pretoria/PotsdamChristian Nottmeier




Die Tagebücher August Hermann Franckes (1663–1727) sind seit geraumer Zeit bekannt, jedoch bislang noch nicht in Gänze ediert und ausgewertet worden. Trotz des hohen kultur- und kirchenhis­torischen Interesses an diesem Protagonisten des Hallenser Pietismus stand der Rezeption seiner Diarien zu vieles entgegen: Es handelt sich nicht um Tagebücher im Stil Goethes oder Kierkegaards oder gar um Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe, sondern um extrem nüchterne und trockene, ja sogar spröde bis stenographische Notizen, oft noch nicht einmal in ganzen Sätzen. Das Tagebuch bietet zwar im »Gegensatz zum Schreibkalender […] Raum zur dokumentierten Selbstreflexion«; dass Franke hier üppigen Ge­brauch davon machte, negieren auch die Herausgeber (XIV f.). Da die wohl jeden Abend erfolgten Einträge zuweilen nicht von Francke selbst, sondern von Mitarbeitern wie Heinrich Julius Elers (Drucker/Verleger des Waisenhauses; vgl. VII) u. a. vorgenommen worden sind, ist man geneigt, hier von einem »Logbuch des Pietismus« zu sprechen.
Franckes »quasi buchhalterische Dokumentation« (XV) er­schlägt geradezu mit einer Fülle von Namen weit über den deutsch­sprachigen Raum hinaus; für den hier behandelten Zeitraum von nicht einmal fünf Monaten (13. Januar bis 19. Mai 1714) umfasst das Personenregister 27 Seiten, das Ortsregister neun, das zweispaltige Bibelstellenregister gut zwei und das wieder einspaltige Sachregister gut zehn, das Literaturverzeichnis gar 30 Seiten, der Briefwechsel notiert 400 Kontakte. Heutigen Lesern bzw. Nutzern erschließt sich Franckes unerhörtes Arbeitspensum durch sein Tagebuch aber nur unter Schwierigkeiten. Sie beginnen bei der Texttranskription mit der Gefahr von Verschreibungen; die abundante Fülle von zeitgenössischen Personen, Schriften, Orten und Sachverhalten birgt die Gefahr von Irrtümern, Verwechslungen etc. Eine systematische Aufarbeitung wäre durch eine einzelne Person kaum leistbar gewesen.
Dieser Aufgabe hat sich darum gleich ein ganzer Herausgeberkreis von vier Personen unterzogen. Gemeinsam ist oder war ihnen die Tätigkeit am Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung (IZP) in Halle (Saale). Der umfassende Blick über den rein kirchlich-theologischen Tellerrand hinaus sowie der vor allem in Einleitung und Kommentierungen zu erspürende Austausch zwischen den Herausgebern hat der Publikation sichtlich gutgetan. Nur Vorwort und einleitende editorische Bemerkungen sind na­mentlich signiert; aus Letzterem geht hervor, dass die 2004 früh verstorbene Carola Wessel die Transkription besorgte; weitere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden im Vorwort benannt.
Wie aus dem Reihentitel Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien hervorgeht, dient die Publikation weniger dem Lesevergnügen als der weiteren wissenschaftlichen Nutzung. Dieses zeigt sich im Verhältnis zwischen eigentlichem Tagebuchtext und Kommentierung; deren Schwergewicht ist trotz kleinerer Schrifttype und Beschränkung auf das unabdingbar Notwendige auf den Seiten 1–102 deutlich erkennbar. Ohne Abbreviaturen mit Verweis auf das vorangestellte Literaturverzeichnis (XXXIII–LXII) sowie die Verwendung der auf S. XXXI f. aufgeführten Abkürzungen und Siglen wäre das Übergewicht der stets notwendigen und hilfreichen Kommentare noch deutlicher.
Franckes Tagebuch von 1714 ist nicht nur sein erstes, sondern wohl auch sein wichtigstes: Der Hallenser Pietismus hatte sich noch nicht als »preußische Staatsreligion« unter Friedrich Wilhelm I. (König in Preußen 1713–1740) durchgesetzt. Kritikpunkt war vor allem fehlende Trennung zur Schwarmgeisterei der »Inspirierten« und die Verbreitung heterodoxer, weil mit den reichsrechtlich an­erkannten Konfessionen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus nicht zu vereinbarender Lehren (XXIV f.). Das von Francke prätendierte Festhalten am Augsburgischen Bekenntnis wurde etwa durch Kontakte zu dem Radikalpietisten und Alchimisten Johann Konrad Dippel (1673–1734) in Den Haag konterkariert. Auch wenn es primär um die Installation einer Außenstelle zum Verkauf von Medikamenten aus Halle ging, war der Kontakt brisant genug, um den Adressaten nur unter dem Anagramm Pelidius statt Dipelius zu nennen (XXII).
Franckes Übernahme der Spener’schen Lehre von exklusiven Privatoffenbarungen führte auch zu Spannungen mit Vertretern der Frühaufklärung wie Thomasius (1655–1728; vgl. XXIV). Sie sollten 1723 zur Ausweisung Wolffs (1679–1754) aus Halle und damit zu einem Akt der Intoleranz führen, welche die argumentative Überzeugungskraft durch den höchst weltlichen Arm eines königlichen Rückenhalters ersetzte. Analoges wiederholte sich 1788 mit dem Wöllnerschen Religionsedikt und mit der Indienstnahme der Er­weckungsbewegung als Mittel der preußischen Reaktion auf die Ereignisse von 1848.
Franckes Tätigkeit als Prediger und Seelsorger, Korrespondent, Publizist und Gründer der Glauchaischen Anstalten erscheint demgegenüber als »business as usual«. Zutreffend wird darum die konfliktreiche Frühzeit des Hallenser Pietismus bei seiner Installierung als Anlass für Franckes erstes Tagebuch bewertet (XXVI). Die Dokumentation diente offenbar schon einer späteren Selbstrechtfertigung, vielleicht auch vor den Augen einer posthumen Nachwelt. Lateinische Passagen, die ebenda als potentielle Verschlüsselung für nicht akademische Leser gedeutet werden, sind in den Anmerkungen zum Text nicht übersetzt worden.
All das und mehr wird auf den 15 Seiten der Einleitung in be­merkenswert klarer Knappheit des Stils und unprätentiöser Ge­lehrsamkeit abgehandelt. Spannend und offen bleibt die Frage, warum Francke derartige Dokumentationen über das Auskaufen der Zeit nicht nur verfasste, sondern auch sammelte: »Waren möglicherweise auch Mitarbeiter der Halleschen Anstalten und/oder Schüler sowie Theologiestudenten zum Erweis ihres christlichen Lebenswandels angehalten, Tagebücher nicht nur zu führen sondern auch vorzulegen? Hierzu liegen noch keine Forschungen vor.« (XVII)
Hilfreich wäre vielleicht der Vergleich von Franckes »Logbuch des Pietismus« mit dem »Volksbuch des Pietismus«, der 1731–1743 vierbändig angelegten Insel Felsenburg des Stolberg-Wernigerodischen Hofbalbiers Johann Gottfried Schnabel (1692 bis vor 1760): Der Roman bietet nach Arno Schmidt »Entstehung und Ausbau des, übrigens streng protestantisch-germanischen, Klein-Staatswesen auf einer Inselgruppe im Südatlantik« samt Einzelbiographien;

»jeder Einwanderer hat, vor Aufnahme ins Neue Gemeinwesen, durch distanzierende Erzählung des früheren Lebenslaufes, den ›Faden abzureißen‹! – die ganze Skala vor: vom bloßen mißmutigen ›Auswandern‹ an; übers ›Entführt werden‹ und ›Entkommen‹ aus Gefängnissen oder frommen Folterkellern; bis zu ›Desertion‹ und ›Fahnenflucht‹: das ergibt schon eine ›Symphonie für großes Orchester‹, der perfide Zusammenklang jener 2 Dutzend Modell-Schicksale! […] Wer ein gültiges und dabei hinreißendes Vollbild der Jahre zwischen 1710 und 30 zu sehen wünscht, der greife nicht nach noch so mühsam-sorgfältigen ›historischen Werken‹; sondern nach dieser lebendigsten INSEL FELSENBURG: da wird er, vielleicht mit großäugigem Erstaunen, erfahren, was es etwa hieß, ›Langer Kerl‹ zu sein, im ›Ehrenkleid der Nation‹, beim Herrn ›Soldatenkönig‹!« (Arno Schmidt, Wunderliche Fata einiger Seefahren, in: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur; sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze, Bd. 1, Zürich 1988, 81)

Das Programm von Franckes Tagebüchern scheint dem Rezensenten darin umgesetzt.