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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

498-501

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Arend, Sabine, u. Gerald Dörner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ordnungen für die Kirche – Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIII, 322 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 84. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-153817-9.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wischmeyer, Johannes [Hrsg.]: Zwischen Ekklesiologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen Reformationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 275 S. m. 3 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ge­schichte Mainz. Beihefte/Abt. Abendländische Religionsgeschichte – Abt. für Universalgeschichte, 100. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-525-10128-5.


Eines der wichtigsten reformationsgeschichtlichen Editionsprojekte wird in absehbarer Zeit abgeschlossen sein: die Anfang des 20. Jh.s von Emil Sehling begonnene Ausgabe der reformatorischen Kirchenordnungen Deutschlands (EKO). Seit 2002 ist die an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelte Forschungsstelle »Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts« dabei, die noch fehlenden, vor allem den Südwesten und den Westen Deutschlands betreffenden Bände zu erarbeiten. Zugleich haben die reformatorischen Kirchenordnungen in den letzten Jahren wieder verstärkt das Interesse der Forschung auf sich gezogen, die von dem Fortgang der Edition profitiert. Zwei Tagungsbände geben einen Einblick in den gegenwärtigen Forschungsstand (zu verweisen ist auch auf zwei weitere in letzter Zeit erschienene gewichtige Sammelbände zum selben Themenkomplex: Sabine Arend u. a. [Hrsg.]: Die württembergische Kirchenordnung von 1559 im Spannungsfeld von Religion, Politik und Gesellschaft, Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 23, Epfendorf 2013; Irene Dingel u. Armin Kohnle [Hrsg.]: Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen in der Reformationszeit, Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 25, Leipzig 2014).
Der von Johannes Wischmeyer herausgegebene Band »Zwischen Ekklesiologie und Administration« ist aus einer 2010 veranstalteten Tagung hervorgegangen. Seine 13 Beiträge thematisieren einerseits die theologische Dimension der Kirchenleitung in der Reformationszeit, andererseits deren organisatorische Umsetzung in einzelnen Territorien. Die vom Herausgeber verfasste Einleitung gibt einen guten Überblick über den Stand und die Perspektiven der Forschung. Der erste Hauptteil stellt dann in vier Beiträgen die ekklesiologischen »Diskussionen« des 16. Jh.s in Auswahl dar.
Elisabeth Rosenfeld blickt auf Luthers, Melanchthons und Bugenhagens Auffassungen von Organisation der Kirchenleitung, geht aber kaum auf das reiche Quellenmaterial zum ekklesiologischen Themenkomplex aus den 1520er und 1530er Jahren und auf die einschlägige ältere und neuere Forschung ein. Johannes Wischmeyer lenkt in seinem Beitrag den Blick auf die Zeit des Aufbaus und Ausbaus reformatorischer Landeskirchen und stellt ausgehend von der Wittenberger Diskussion der 1540er Jahre eine Reihe aufschlussreicher lutherischer Diskussionsbeiträge seit der Jahrhundertmitte dar. Seine Skizzen zu Erasmus Sarcerius, David Chyträus und Jakob Andreae sind von besonderem Wert, weil sich bei diesen Protagonisten theologische Reflexion und kirchenleitende Funktion verschränkten und das Wechselverhältnis von Ekklesiologie und Administration anschaulich wird. Einen Blick auf die parallele Entwicklung in der entstehenden römisch-katholischen Konfessionskirche wirft Klaus Unterburgers Beitrag, der den aktuellen Forschungsstand zusammenfasst und anhand einiger Beispiele illustriert. Abgeschlossen wird der Teil zur ekklesiologischen Theorie mit Georg Plasgers Aufsatz zum »dynamische[n] Verständnis reformierter Kirchenleitung«, der allerdings zu wenig die Gemeinsamkeiten von lutherischen und reformierten Kirchenverfassungen berücksichtigt und mit seinem »dogmatisch-normativ[en]« Interesse die geschichtlich gewordene Vielgestaltigkeit reformierter Kirchenverfassung nicht hinreichend würdigt. Plasger sieht die von Calvins Theologie bestimmte »presbyterial-synodale Kirchenordnung als Grundmodell reformierter Ekklesiologie«, grenzt diese von der an der äußeren Ordnung der Kirche vermeintlich weniger interessierten lutherischen Ekklesiologie ab und kontrastiert den reformierten Idealtypus mit unterschiedlichen Verwirklichungen reformierter Kirchenordnung.
Der zweite Hauptteil behandelt in sechs Beiträgen die »Implementierungen« reformatorischer Kirchenleitung. Axel Gotthard leitet diesen Teil mit einer Zusammenfassung seiner Forschungen zum ius reformandi des Augsburger Religionsfriedens von 1555 als dem reichsrechtlichen Rahmen der Kirchenordnungen der zweiten Jahrhunderthälfte ein. Aus der editorischen Arbeit an den württembergischen Kirchenordnungsquellen (EKO 16) erwachsen ist Sabine Arends Aufsatz zum württembergischen Kirchenrat, der vor allem wegen des Überblicks über die Weiterwirkungen und Um­formungen des württembergischen Modells in anderen territorialen Kirchenordnungen wertvoll ist. Eine aufschlussreiche De­tailstudie zur Entwicklung im Herzogtum Pommern legt Maciej Ptaszyn´ ski in seinem Beitrag über in die 1570er und 1580er Jahre fallenden Auseinandersetzungen zwischen Jakob Kruse und Jakob Runge vor. Er zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich der von der Pommerschen Kirchenordnung 1564 gesetzte Rahmen verstanden wurde und wie sich in den Auseinandersetzungen um die rechte Kirchenleitung theologische, politische und persönliche Mo­mente vermischten.
Die durch mehrere Konfessionswechsel und gleichwohl starke institutionelle Kontinuität bestimmte Entwicklung der Kirchenleitung in der Kurpfalz ist das Thema des Beitrags von Regina Baar-Cantoni. Jens E. Olesen lenkt den Blick auf die nordische Reformationsgeschichte, wobei er die starke Umformung der Kirchenstruktur in Dänemark und Norwegen und insbesondere das neugeschaffene Amt des Superintendenten behandelt, nicht aber die vergleichsweise sanfte Transformation der episkopalen Kirchenverwaltung in Schweden und Finnland, und auch nicht darauf eingeht, ob diese Veränderungen von einer ekklesiologischen oder kirchenrechtlichen Diskussionen begleitet waren. Martin Armgarts Beitrag ist aus der Arbeit an dem 2011 erschienenen Band der siebenbürgischen Kirchenordnungen (EKO 24) hervorgewachsen und zeigt am Beispiel der Siebenbürger Sachsen, wie eine von der Territorialobrigkeit freie, im Spannungsfeld zwischen geistlicher und weltlicher Gemeinschaft stehende lutherische Kirche organisiert sein konnte. Beschlossen wird der Band mit zwei Kommentaren von Karl Härter und Irene Dingel, die prägnante Zusammenfassungen der rechtsgeschichtlichen bzw. kirchengeschichtlichen Hauptmomente von Theorie und Praxis der Kirchenleitung im Reformationsjahrhundert bieten. Zudem werden hier bedenkenswerte Anfragen an die Beiträge des Bands formuliert. Vor allem Härters Kritik an der unzureichenden Berücksichtigung der rechtsgeschichtlichen Forschung in den »sich primär im Bereich des theologischen Diskurses und der kirchlichen Institutionengeschichte« bewegenden Beiträgen ist ein für alle weitere Forschung zu diesem Themenkomplex wichtiger Hinweis.
Der von Sabine Arend und Gerald Dörner herausgegebene Band »Ordnungen für die Kirche – Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts« ist stärker auf die Textgattung der Kirchenordnungen fokussiert und gibt mit seiner Orientierung an der von Sehling initiierten Edition die Schwerpunktsetzung beim deutschen Luthertum vor.
Eröffnet wird der Band mit Christoph Strohms überaus lesenswertem Vergleich lutherischer und reformierter Kirchenordnungen, der die herkömmlichen Kontrastierungen beiseitelässt und an gut gewählten Beispielen Gemeinsamkeiten und Unterschiede benennt. Auf diesen einleitenden Beitrag folgt eine Reihe von 15 Aufsätzen, die sich Einzelthemen widmet. Vielfach sind diese Aufsätze aus der editorischen oder wissenschaftlichen Arbeit an den Kirchenordnungen hervorgegangen, was ihnen besonderes Ge­wicht verleiht und beim Lesen großen Erkenntnisgewinn verschafft. Sabine Arend behandelt das Verfahren der Pfarreranstellung am Beispiel Württembergs, und zieht vergleichend die entsprechenden Regelungen der Diözese Konstanz aus vorreformatorischer Zeit und andere reformatorische Kirchenordnungen heran. Gerald Dörner richtet den Blick auf die oberdeutschen Gottesdienstordnungen (einschließlich Straßburgs und Basels) und zeigt die großen Gemeinsamkeiten der Regelungen zum Predigt- und Abendmahlsgottesdienst sowie zu Taufe und Trauung auf. Andrea Hofmann behandelt das reformatorische Liedgut in Kirchenordnungen und macht dabei auf die Erfolgsgeschichte der in Straßburg entwickelten Form des Psalmlieds aufmerksam, das nicht nur den Genfer Psalter beeinflusste, sondern über den Lobwasserpsalter und dessen lutherische Adaption auch im deutschen Protestantismus heimisch wurde. Meike Melchinger untersucht den für die reformatorischen Kirchenordnungen wichtigen und traditionsgeschichtlich neuartigen Rückgriff auf die Bibel am Beispiel der Re­zeption des Alten Testaments in Bugenhagens Kirchenordnungen. Das kursächsische Eherecht und seine Entwicklung im Zuge des Auf- und Ausbaus der reformatorischen Landeskirche ist das Thema von Ralf Frasseks Beitrag. Tim Lorentzen widmet sich in einem mehr analytisch als deskriptiv angelegten, seine bisherigen ge­wichtigen Forschungen zu diesem Thema eindrücklich zusammenfassenden und abrundenden Beitrag den Regelungen der Kirchenordnungen zur öffentlichen Fürsorge. Christian Hattenhauer wendet sich den Regelungen zu Wucher und Wucherern zu und zeichnet den Übergang der Regelungskompetenz in diesem Be­reich von der Kirche an den Staat nach. Interessant ist das Nebeneinander der beiden Aufsätze zum Umgang mit religiösen Bildern von Volker Leppin und Bridget Heal. Beide nehmen dasselbe Phänomen – den konservierenden Umgang des Luthertums mit dem spätmittelalterlichen Kirchenraum und seiner Ausstattung – in den Blick, wobei Leppin auf die überwiegend bilderkritische Grundhaltung in der Anfangsphase der Reformation hinweist, die allerdings kaum praktische Auswirkungen gehabt habe, während Heal die im Laufe der Zeit entwickelten Argumentationsmuster für den bewahrenden Umgang mit Bildern vorstellt und die allmähliche Verankerung religiöser Bilder in der lutherischen Konfessionskultur betont.
Einzelne Kirchenordnungen behandeln die Aufsätze von Thomas Bergholz zu Johann Baders bislang unbekanntem Landauer Kirchenamt von 1534 (die in den Zusammenhang von EKO 19 ge­hört), von Stephen E. Buckwalter zu einer unbekannten Augsburger Kirchenordnung aus der Mitte der 1530er Jahre (mit einer Edition, die in den Zusammenhang von EKO 12 gehört), von Martin Schwarz Lausten zur Entstehungsgeschichte der von Bugenhagen verantworteten dänischen Kirchenordnung von 1537/39 und von Christine Mundhenk zur kirchlichen Ordnung der von Johannes Mathesius geleiteten Joachimsthaler Gemeinde im Königreich Böhmen. Der Beitrag von Ronald G. Asch, der sich mit den Richtungskonflikten innerhalb der englischen Kirche Anfang des 17. Jh.s und den dadurch initiierten Veränderungen des kirchlichen Lebens be­schäftigt, streift die reformatorischen Kirchenordnungen allenfalls und passt mit seinem zeitlichen und thematischen Fokus nicht ganz in die Reihe der anderen Aufsätze.
Dass der von Sabine Arend und Gerald Dörner herausgegebene Band anders als der von Johannes Wischmeyer herausgegebene auf eine Zusammenfassung des Forschungsstands und eine Diskussion der Beiträge verzichtet, stellt kein Manko dar. Misslich ist allerdings, dass die im Grußwort von Paul Kirchhof enthaltenen Fehler und Ungenauigkeiten nicht vor dem Druck richtiggestellt wurden. Insgesamt bietet der Band zahlreiche gute Überblicke und neue Erkenntnisse, die die Kirchenordnungsforschung befruchten werden.
Der seit 2002 begonnene Abschluss der vor mehr als hundert Jahren von Emil Sehling initiierten Edition und die hier besprochenen Sammelbände unterstreichen die zentrale Bedeutung der Textgattung der Kirchenordnungen für die reformationsgeschichtliche Forschung. Vieles bleibt aber noch zu tun. So können die von Sehling selbst zum Druck gebrachten Bände der EKO editorisch nicht mehr befriedigen und bedürfen der Neubearbeitung. Auch sind immer noch nicht alle relevanten Quellen bekannt und wissenschaftlich aufgearbeitet. Die komparatistische und interdisziplinäre Beschäftigung mit den Kirchenordnungen hat das Potential dieser Quellen noch nicht ausgeschöpft und verspricht noch viele weiterführende Erkenntnisse.