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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

933–936

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Überweg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 1: Allgemeine Themen. Iberische Halbinsel Italien. 2 Halbbde. Hrsg. von J.-P. Schobinger.

Verlag:

Basel: Schwabe 1998. LXIII, 512 S. u. XXXVIII, S. 513-1142 gr.8. Lw. sFr 220.-. ISBN 3-7965-1034-5.

Rezensent:

Dominik Perler

Wer sich mit der Philosophie des 17. Jh.s beschäftigt, konzentriert sich meistens auf einige einflußreiche Denker in den intellektuellen Zentren Frankreichs, Englands und der Niederlande. Denn bei Autoren wie Descartes, Gassendi, Hobbes oder Locke- so wird dabei angenommen - zeigt sich besonders deutlich der neuzeitliche Charakter dieser Philosophie: der Bruch mit der scholastischen Tradition, die enge Verbindung von mechanistischer Physik und Metaphysik sowie die zunehmende Bedeutung der Erkenntnistheorie. Ein derartiger Ansatz ist allerdings mit zahlreichen historiographischen Hypotheken belastet. Erstens wird dabei übersehen, daß außerhalb der bekannten Zentren (z. B. in Spanien, Portugal und Italien) ebenfalls wichtige philosophische Diskussionen geführt wurden. Zweitens wird einfach angenommen, Philosophie habe sich auf ein Gespräch unter den "großen Denkern" beschränkt. Daß es in den Universitäten, Akademien und Ordensschulen auch rege und durchaus originelle Auseinandersetzungen unter weniger bekannten Philosophen und Philosophinnen gab, wird kaum beachtet. Drittens schließlich wird einfach unterstellt, genau jene Denker seien von philosophiehistorischem Interesse, die sich durch typisch neuzeitliche Ideen auszeichnen. Was dabei als typisch neuzeitlich zu gelten hat und nach welchen Kriterien das neuzeitliche Denken von jenem des Mittelalters und der Renaissance abzugrenzen ist, wird allerdings selten erklärt.

Genau von diesen historiographischen Hypotheken versucht sich der neue Überweg zu befreien. Der vorliegende Doppelband (Bestandteil einer auf vier Doppelbände angelegten Darstellung) setzt sich zum Ziel, ein umfassendes Bild von der Philosophie des 17. Jh.s zu zeichnen - ein Bild, das auf stereotype Charakterisierungen verzichtet und auch die häufig vernachlässigten Philosophen berücksichtigt. In diesem Bild kommen die spanischen Jesuiten ebenso vor wie die wenig bekannten Mitglieder der "Academia die Lincei", die traditionellen Thomisten und Scotisten ebenso wie die progressiven Nachfolger Galileis und die Vertreter der okkulten Strömungen ebenso wie die Anhänger Descartes’. Durch diese bunte Vielfalt wird deutlich, daß das 17. Jh. nicht einfach den Anfang eines "neuen Denkens" markierte, sondern in mindestens so hohem Maße auch das "alte Denken" weiterführte.

Der Doppelband gliedert sich in drei Teile. In einem ersten Teil werden allgemeine Themen behandelt: die Stellung der Philosophen im 17. Jh., der institutionelle Rahmen, der Gebrauch unterschiedlicher Sprachen im wissenschaftlichen Diskurs und die Rezeption außereuropäischer Philosophien. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die herausragende Stellung der Methodenreflexion im 17. Jh. gelegt. Im zweiten Teil folgt eine Darstellung der Philosophie in Spanien und Portugal. Dabei wird die Präsenz der klassischen Systeme ebenso berücksichtigt wie die anhaltende Wirkung der Schulphilosophie und die zunehmende Verbreitung des Cartesianismus. Der dritte Teil enthält eine umfassende Darstellung der philosophischen Strömungen in Italien. Der Akzent liegt dabei einerseits auf der politischen Philosophie, andererseits auf der Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie Galileis und seiner Nachfolger. Sämtliche Kapitel sind mit reichhaltigen, übersichtlich gestalteten Bibliographien versehen, die zu einem selbständigen Studium anregen. Sie fassen nicht bloß vorhandenes Wissen auf dem neuesten Forschungsstand zusammen, sondern setzen auch eigene Schwerpunkte und eröffnen gezielt bestimmte Forschungsperspektiven, wie ich anhand zweier Beispiele kurz zeigen möchte.

(1) Das 17. Jh. wird in Handbüchern oft "das Jahrhundert der Methode" genannt. Diese allgemeine Etikettierung ist aber wenig aufschlußreich, denn die Autoren dieser Periode entwickelten in unterschiedlichen Kontexten (Naturphilosophie, Metaphysik, Psychologie usw.) ganz unterschiedliche methodische Ansätze, die auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. Zudem scheint die Beschäftigung mit dem Methodenproblem kein besonderes Charakteristikum des 17. Jh.s zu sein; auch die Aristoteliker des 13. und 14. Jh.s oder die Ramisten des 16. Jh.s widmeten sich diesem Problem. Daher stellt sich die Frage, worin sich der methodologische Ansatz im 17. Jh. von jenem früherer Epochen unterscheidet und welche Funktion dieser Ansatz im Rahmen unterschiedlicher philosophischer Disziplinen hatte. Genau diese Frage greift P. Schulthess in seinem äußerst reichhaltigen Beitrag auf. Er beschränkt sich dabei nicht - wie dies in allgemeinen Darstellungen üblich ist - einfach auf eine Präsentation verschiedener Methodenhandbücher des 17. Jh.s. Er geht vielmehr auf die scholastischen und humanistischen Methodendiskussionen zurück und zeigt überzeugend, daß die Debatten des 17. Jh.s an diese Diskussionen anknüpften, sie in entscheidenden Punkten aber auch transformierten.

Im Rahmen der scholastisch-aristotelischen Methodologie wurde unter "Methode" immer der Weg verstanden, der zu einem wohl begründeten, syllogistisch deduzierten Wissen führt (64). Und es wurde angenommen, daß es für jedes Wissen einen einheitlichen Gegenstand gibt (65). Daher konzentrierten sich die Methodendiskussionen vor allem auf eine Bestimmung dieses einheitlichen Gegenstandes, der ein einheitliches Wissen ermöglicht. Bereits im 14. Jh. wurde dieser Ansatz aber durch Ockham in Frage gestellt, der darauf hinwies, daß nicht ein besonderer Gegenstand, sondern höchstens eine besondere Logik - eine besondere Analyse wahrer wissenschaftlicher Sätze- eine Einheit ermöglicht. Doch welcher Zusammenhang muß dann zwischen den einzelnen Sätzen bestehen, damit eine kohärente Analyse möglich ist? Genau diese Frage gewann im 14. und 15. Jh. an Bedeutung. Sie verschärfte sich noch im 16. Jh., als Ramus unter Rückgriff auf die ciceronianische Topik betonte, es sei die Aufgabe der Methode, mit Hilfe topischer "loci" wissenschaftliche Sätze zu ordnen und zu einem System zusammenzustellen. Diese Bestimmung der Methode warf natürlich einige Fragen auf: Was genau ermöglicht eine Verbindung und Ordnung der einzelnen Sätze? Und wie muß ein erkennendes Subjekt diese Sätze erfassen? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt für die Diskussionen im 17. Jh., wie Schulthess betont: "Die Methodenfrage stellt sich also im 17. Jahrhundert als Frage nach dem nexus veritatum und dessen Verhältnis zum Wissen selbst, das Erkenntnisleistung des Subjekts ist ..." (72).

Mit dieser Formulierung der Methodenfrage betont Schulthess zwei wichtige Punkte. Erstens stellen die Methodendiskussionen im 17. Jh. nicht einfach einen radikalen Neuanfang dar, wie Autoren des 17. Jh.s (z. B. Bacon und Descartes), aber auch Interpreten des 20. Jh.s teilweise behauptet haben. Diese Diskussionen knüpfen vielmehr an Fragestellungen an, die bereits im Spätmittelalter entwickelt wurden und spätestens im 16. Jh. bereits virulent waren. Zweitens liegt die Originalität der Autoren des 17. Jh.s vor allem darin, daß sie den "nexus veritatum" nicht mehr mit Rekurs auf einen einheitlichen Wissensgegenstand zu bestimmen versuchten, sondern - wie Schulthess zu Recht betont - mit Rekurs auf die Erkenntnisleistung des Subjekts: Nicht ein besonderer Gegenstand in der Natur garantiert die Einheit des Wissens, sondern nur das erkennende Subjekt, das eine Ordnung unter einzelnen wissenschaftlichen Sätzen herstellt. In diesem methodologischen Ansatz zeigt sich deutlich der Übergang zu einem sujektorientierten Methoden- und Wissenschaftsbegriff.

(2) Das 17. Jh. ist in der Historiographie der italienischen Philosophie immer wieder als eine "Leere in der Geistesgeschichte" bezeichnet worden: als eine unbedeutende Periode zwischen Campanella und Vico. In seiner äußerst anregenden Einleitung zum dritten Teil des Doppelbandes zeigt P. Casini, daß eine solche Bezeichnung auf fragwürdigen historiographischen Prämissen beruht. Seit den einflußreichen Arbeiten von G. Gentile wurde nämlich immer wieder angenommen, die wissenschaftliche Revolution des 17. Jh.s sei nicht Gegenstand der Philosophiegeschichte. Ihre Aufgabe bestehe darin, den "Fortschritt des Geistes" zu untersuchen. Da im 17. Jh. diesbezüglich kein Fortschritt erzielt worden sei, verdiene diese Periode kaum eine Würdigung. Casini zeigt überzeugend, daß sich in dieser Konzeption "eine idealistische Auffassung von Philosophiegeschichte und ein positivistisches Wissenschaftsverständnis in einer Art unfreiwilliger Komplizenschaft" verbinden (518). Erst wenn diese Komplizenschaft aufgegeben wird, läßt sich die These von einer "Leere in der Geistesgeschichte" überwinden. Konkret heißt dies: Erst wenn die Philosophiegeschichte auch die Naturwissenschaften und die Naturphilosophie berücksichtigt und diese weder in idealistischer noch in positivistischer Perspektive beurteilt, kann sie feststellen, daß das 17. Jh. eine fruchtbare Periode in der Geschichte der italienischen Philosopie war. Dann wird nämlich deutlich, daß die Entwicklungen in den empirischen Wissenschaften (Physik, Astronomie usw.) und in der Mathematik entscheidende Konsequenzen für eine Neubestimmung des Natur- und Wissenschaftsbegriffs hatten.

Diese Forderung nach einer Neuorientierung der Philosophiegeschichte ist zwar nicht neu. Spätestens seit den Pionierarbeiten von P. Duhem, A. Koyré und A. Maier hat sich gezeigt, daß eine adäquate Philosophiegeschichte immer auch eine Geschichte der Naturwissenschaften berücksichtigen muß. Doch Casinis Ausführungen scheinen mir nach wie vor Gültigkeit zu besitzen. Sie verdeutlichen, daß Philosophiegeschichte nicht einfach Ideengeschichte sein darf, auch nicht bloß eine Geschichte von metaphysischen Systemen. Stets muß sie auch die engen Verbindungen von empirischer Wissenschaft und philosophischer Reflexion im Blick haben.

Es ist unvermeidbar, daß ein umfassendes Werk, zu dem 27 Autoren beigetragen haben, gewisse innere Spannungen aufweist; denn unterschiedliche Autoren nehmen unterschiedliche Gewichtungen und Wertungen vor. Daß die Beiträge einzelner Autoren aber teilweise in Widerspruch zueinander stehen, ist erstaunlich. So behauptet G. MacDonald Ross in seinem Kapitel zu okkulten Strömungen, daß "das 17. Jahrhundert relativ wenig Interesse an Indien oder China" zeigte. "Die Jesuiten in China begehrten eher zu lehren als zu lernen ..." (213). Auf diese klare Aussage folgt jedoch ein ausführliches Kapitel über die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa, in dem I. Kern belegt, daß verschiedene Europäer im 17. Jh. durchaus ein Interesse an der chinesischen Philosophie zeigten. Zwar weist auch Kern darauf hin, daß dieses Interesse von einer missionarischen Motivation geprägt war. Trotzdem bemühten sich die jesuitischen Missionare nicht einfach zu lehren, sondern auch zu lernen. Sie übersetzten wichtige Bücher der chinesischen Philosophie ins Lateinische (z. B. die Vier Bücher der Konfuzianer) und verfaßten Abhandlungen, in denen sie sich eingehend mit dem Konfuzianismus beschäftigten. Konfuzius galt als so einflußreich und philosophisch gehaltvoll, daß er vom Jesuiten Martini sogar "Sinarum Plato" genannt wurde (279). Angesichts dieser Kenntnis und Wertschätzung der chinesischen Philosophie im 17. Jh. bedarf die Behauptung von MacDonald Ross einer Korrektur oder zumindest einer Erläuterung.

Noch ein weiterer Punkt bedarf einer kritischen Prüfung. E. Rivera de Ventosa behauptet in seiner Einleitung zum zweiten Teil: "Während im übrigen europäischen Denken das Unendliche zu einem Gegenstand der Reflexion geworden war, den man mathematisch zu interpretieren versuchte, empfand der Spanier das Unendliche als Sehnsucht und Leidenschaft." (322) Und im gleichen Abschnitt charakterisiert er das Verhältnis von spanischer Kunst und Philosophie im 17. Jh., indem er schreibt, die Kunst sei "Ausdruck einer tiefen Gemütsbewegung der spanischen Seele, die sich in dieser Zeit sehr viel mehr in der Kunst als im philosophischen Denken offenbarte." Daß in einer Einleitung Vereinfachungen und Verkürzungen erforderlich sind, ist verständlich. Doch was ist unter "dem Spanier" und "der spanischen Seele" zu verstehen? Was heißt es, daß der Spanier - wer auch immer diese Idealfigur sein mag - "das Unendliche als Sehnsucht und Leidenschaft" empfand? Und warum "offenbarte" sich die spanische Seele eher in der Kunst als in der Philosophie? Mir scheint es methodisch fragwürdig, allgemeine Typologisierungen vorzunehmen und umfassende Urteile zu fällen, ohne diese anhand konkreter Beispiele zu belegen.

Meine kritischen Nachfragen und Bemerkungen zu den beiden erwähnten Punkten sollen freilich nicht den hohen wissenschaftlichen Wert des neuen Überweg in Frage stellen. Zusammen mit der ebenfalls 1998 erschienenen Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy (hrsg. von M. Ayers und D. Garber, Cambridge University Press) stellen die Überweg-Bände zweifellos das neue Standardwerk zur Philosophie des 17. Jh.s dar.