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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

931–933

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Oelsmann, Markus

Titel/Untertitel:

Johann Evangelist von Kuhn. Vermittlung zwischen Philosophie und Theologie in Auseinandersetzung mit Aufklärung und Idealismus.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 1997. 364 S. gr.8 = Epistemata, Reihe Philosophie, 192. Kart. DM 98,-. ISBN 3-8260-1116-3.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

Die Eichstätter Dissertation untersucht das Lebenswerk des katholischen Theologen Johann Evangelist von Kuhn (1806-1887) unter einem besonders signifikanten Gesichtspunkt: O. fragt nach der Struktur des "Übergangs". Gemeint ist damit das dialektische Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft, Theologie und Philosophie. Profiliert wird der Übergang in der Auseinandersetzung mit jenen evangelischen Philosophen und Theologen, deren Denken jeweils den Anknüpfungspunkt für Kuhns Überlegungen bereitgestellt hat. Das sind Jacobi, Schleiermacher, Schelling und Hegel. Im Verlauf der Untersuchung wird deutlich, daß Kuhn sich dem spekulativen Denken weitgehend annähert, die letzte Konsequenz aber verweigert, weil es keine Brücke gibt vom Endlichen zum Unendlichen. Daher muß der Übergang immer auch als Sprung beschrieben werden. Der Preis für eine solch differenzierte Position liegt in den notwendig schillernden Argumentationen, die dem Vorwurf der Inkonsequenz gegenüber eigentümlich anfällig sind. Auf solche Inkonsistenzen richtet sich denn auch vornehmlich O.s Untersuchung.

Den Ausgangspunkt bildet Kuhns diffizile Bestimmung der Unmittelbarkeit, die sich bis zum Schluß - auch in der Auseinandersetzung mit Hegels System - durchhalten wird. Hier liegt eine mögliche Konvergenz zwischen Glauben und Vernunft. "In der Tat existiert eine Grenze zwischen der Realität und logischen Evidenzen, wie auch zwischen natürlich erkannten Gegenständen und Glaubenswahrheiten" (33). In der Anknüpfung an Jacobi geht es Kuhn bereits um "eine Denkkrise, in der die Selbstkritik der Vernunft ihre auf Erfüllung und Vollendung angelegte Struktur wieder sichtbar machen sollte und sie damit gewissermaßen zur theologischen Begegnung freigab. Kuhn konnte deshalb bei dem Versuch seiner natürlichen Glaubensbegründung an einem Vernunftglauben anknüpfen, dessen ,Gläubigkeit’ die reine Vernunft immer schon depotenziert hatte" (63). Im Unterschied zu Jacobi will er allerdings an dieser Grenze der Vernunft vermitteln, so daß aus dem Sprung ein "relativer saltus" wird. Kuhns Bemühungen um eine Verhältnisbestimmung von Unmittelbarkeit und Vermittlung legen den Vergleich mit der oszillierenden Bewegung zwischen Philosophie und Theologie bei Friedrich Schleiermacher nahe.

Das Gefälle zwischen "Dialektik" und "Glaubenslehre" soll beleuchten, wie Kuhn hätte verfahren können. "Übergang" ist in der Tat eine zentrale Metapher bei Schleiermacher. O. zeigt, daß bei Schleiermacher zwei Übergänge zu unterscheiden sind- vom unmittelbaren zum religiösen Selbstbewußtsein sowie vom Bewußtsein der Abhängigkeit überhaupt zum Bewußtsein der Abhängigkeit von Gott. Es bleibt dabei "nicht nur dem gefühlstheologischen Ansatz Schleiermachers, sondern letztlich auch dem offenbarungstheologischen Ansatz Kuhns eine nicht auflösbare Antinomie immanent, die darin besteht, sich einerseits vom pantheistischen Standpunkt mit Jacobi abgrenzen zu wollen und für die Gotteserkenntnis eine prinzipiell andere Erkenntnisform im Gegensatz zur Welterkenntnis reklamieren zu wollen, andererseits aber dennoch an der Auffassung von einem unmittelbaren Gottesbewußtsein festzuhalten, nach der es Prinzip wirklicher Erkenntnis bleibt und nicht nur als Prinzip der Möglichkeit der Erkenntnis bestimmt wird" (128).

In der Auseinandersetzung mit Schellings Spätphilosophie tritt deutlicher hervor, wo O. die dogmatischen Akzente setzt. Es geht um das Verhältnis zwischen göttlicher Gnade und menschlicher, transzendentaler Freiheit. Nach O. wird dieses Verhältnis bei Schelling nicht reflektiert. "Bei Schelling soll stattdessen im Hinblick auf die übermächtige Wirklichkeit die Vernunft entmachtet werden, um für die unendliche Freiheit Gottes und ein freies Denken Raum zu gewinnen" (234). An dieser Stelle wird in der Sicht O.s durch die Sprungmetapher das Problem der Gnadenlehre philosophisch aufgelöst, und zwar nicht nur bei Schelling, sondern auch bei Kuhn. Das ist ein klassischer kontroverstheologischer Streitpunkt, denn es geht um nichts Geringeres als die Frage nach der Eigenbeteiligung der menschlichen Freiheit bei der Annahme des Glaubens. In diesem Zusammenhang muß eine zentrale These der Schellingschen Spätphilosophie anstößig werden, nämlich die Einsicht der Vernunft, daß sie sich nicht selbst setzen kann. Das ist "nur dialektische Beschreibung eines undialektischen Übergangs von der negativen zur positiven Philosophie. Diese Beschreibung aber kann selbst den Umschlag nicht ersetzen" (237). Nach O. kann solch ein Übergang die Perspektiven der Vernunft und des Glaubens nur äußerlich vermitteln, während die Freiheit eine innerliche Beteiligung der Person markiert.

Eine andere dogmatische Prämisse wird in der Analyse der Auseinandersetzung Kuhns mit Hegel deutlich. "Formal will Kuhn zwar in seiner philosophischen Theologie Philosophie und Theologie voneinander unterscheiden, methodisch dagegen trennt er nicht. In seiner Theologie läßt Kuhn die Dialektik das Zepter nicht anders führen als die Philosophie seiner Zeit, obwohl diese bereits bei der Grundlegung der Theologie, insbesondere bezüglich der Übernatürlichkeit des Glaubens, an ihre Grenze hätte stoßen müssen" (268). Die Alternative wäre nach O. eine analogische natürliche Gotteserkenntnis, wo die natürlichen Möglichkeiten der Vernunft auch vor dem Glauben zur Geltung kommen (vgl. 271).

Im Unterschied dazu bildet die Hegelsche Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermittlung einmal mehr den Hintergrund für eine Kuhnsche Gratwanderung zwischen Jacobis Betonung einer unmittelbaren Erkenntnis und der absoluten Vermittlung (vgl. 293).Während Kuhn die Philosophie seiner Zeit mitsamt ihrer erkenntnistheoretischen Engführung aufgreift, um Raum für den Glauben zu schaffen, der aber dann ähnlich inhaltsleer entfaltet wird, fordert O.: "Für das Selbstverständnis des Glaubens als eines vernünftig und freien menschlichen Aktes bleibt es jedoch unabdingbar, daß der sich in Christus offenbarende Gott immer auch der wiedererkannte Gott natürlicher Gottsuche oder Gotteserkenntnis ist" (273). Geht man von der Realität des Kreuzes aus, so verbürgt dies "die partielle Identität von Vernunft und Glaube. Das Verhältnis von Theologie und Philosophie wäre dann aber völlig unbestimmbar, wenn sich beide Wissenschaften bloß dialektisch voneinander abgrenzen würden und könnten; der Theologie wäre keine Philosophie vorauszusetzen und der Philosophie gegenüber bliebe die Theologie ein fideistischer Dogmatismus, während Erkenntnisse der Philosophie zu den Glaubenswahrheiten keine Beziehung hätten" (290).

Die Untersuchung ist in der Gedankenführung extrem unübersichtlich. Die Darstellung richtet sich stets sogleich auf die Auseinandersetzung Kuhns mit den philosophischen Kontrahenten, bezieht aber oft auch Forschungsliteratur ein und springt voraus oder zurück. Es fehlen detaillierte Analysen, wodurch vor allem die radikale Kritik an Kuhn unfair erscheint. Erst allmählich tritt hervor, daß O. schon von einem dogmatischen, nämlich dezidiert tridentinisch-vatikanischen Standpunkt aus urteilt. Dieser Standpunkt ist natürlich aus der Perspektive der idealistischen Systeme keineswegs unumstritten.

Wenn O. auch für die Dogmatik eine vernünftig-freie Gottsuche als Anknüpfungspunkt postuliert, wäre zu fragen, ob diese Gottsuche nicht gut reformatorisch immer schon als ein menschliches Sich-Verschließen vor Gott präzisiert werden muß, so daß eine dialektische Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie gerade angemessen ist und keineswegs eine erkenntnistheoretische Engführung bleiben muß. O. klagt eine "gnoseologisch-ontologische Fundierung der Wahrheitsfrage" (284) und "eine Philosophie des Seienden" ein, "die das Sein ursprünglich als vermittlungsfähig erweist, indem sie die Bindung von Freiheit und Wahrheit an das Sein herausstellt" (285). Damit ist doch gerade das Anliegen Schleiermachers und Hegels recht genau bezeichnet. Allerdings spielt Dialektik dabei eine konstitutive Rolle, weil gerade der Widerspruch der befreiten Vernunft gegenüber der sündig verkehrten Vernunft alles andere als ein logisches Problem ohne "Seinsbezug" ist. Wird diese Subtilität nicht beachtet, bleibt natürlich nur eine fundamentaltheologische Bestimmung von philosophischer Außenperspektive und theologischer Innenperspektive, die "als Vernunfttätigkeiten kommensurable Größen" (297) sind. Das ist gerade zu bestreiten! Erst am Ende kommt O. selbst zu der Bemerkung, die viel früher schon hätte gemacht werden müssen: Zur Sinnerfüllung des menschlichen Daseins "gehört unabdingbar seine Freiheit. Diese Freiheit ist sündige, endliche Freiheit, durch die der Mensch in die Aporien hineingerät, die dargestellt worden sind. Befreiung dieser Freiheit und Sinnerfüllung freier Existenz geschieht eben nur durch jene Partizipation an Gottes Freiheit, die Gott selbst durch Christus im Hl. Geist gewährt" (331).

Dann wäre allerdings auch zu fragen, welche Rolle eine transzendentale Freiheit in diesem Zusammenhang spielen soll - wie kann sie neutral sein, wenn sie doch befreit werden muß? Und meint das Tridentinum mit dem "freiem Willen" die transzendentale Freiheit? Allerdings wird der Begriff "Freiheit" nirgends zum Gegenstand einer Klärung. (Und ausgerechnet die Gnadenlehre Kuhns wird nicht genau analysiert, vgl. 285 Anm. 70.) Unklar bleibt auch der Begriff "Dialektik". Immer wieder kritisiert O. den Versuch, Übergänge durch antinomische Verwicklungen zu beschreiben. Wie aber sollen Übergänge sonst präzisiert werden, wenn nicht als Perspektiven, die ineinander umschlagen, oder als labil ausbalancierte Polaritäten? Offen bleibt bis zum Schluß die Frage: Warum hat sich ein zu Lebzeiten ebenso einflußreicher wie persönlich schillernder katholischer Theologe an bemerkenswert evangelisch geprägten Vermittlungsversuchen zwischen Glauben und Wissen gerieben?

Die von O. vorgelegte Dissertation schärft das Bewußtsein für diese Frage, trägt aber zur Antwort nur wenig bei.