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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

467-469

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kilchör, Benjamin

Titel/Untertitel:

Mosetora und Jahwetora. Das Verhältnis von Deuteronomium 12–26 zu Exodus, Levitikus und Numeri.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. XVIII, 390 S. m. Abb. u. Tab. = Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, 21. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-447-10409-8.

Rezensent:

Siegbert Riecker

Lässt sich die Abhängigkeitsrichtung von thematisch parallel verlaufenden Gesetzeskorpora systematisch und flächendeckend bestimmen? Und was ist der konkrete Befund im Hinblick auf die Anordnung von Bundesbuch (BB, Ex 20,22–23,33), »Priestertora« (P, hier Lev 1–16), Heiligkeitsgesetz (H, hier Lev 17–27) und dtn Gesetz (D, Dtn 12–26)? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Benjamin Kilchör in seiner Dissertation, eingereicht im Jahr 2014 an der Evangelischen Theologischen Fakultät in Leuven unter Begleitung des Niederländers Hendrik Koorevaar.
Die in der Regel vertretene entstehungsgeschichtliche Anordnung BB-D-P/H führt nach B. M. Levinson zu einer »major irony of literary history«: Wenn H die Texte von D kannte und diese ab­schaffen und/oder ersetzen wollte, sei dies gründlich schiefgelaufen. D wurde nicht nur mit überliefert; in der Rechtshermeneutik der Tora hat das Deuteronomium nun sogar »das letzte Wort« (2.20). Von daher gehen E. Otto und C. Nihan davon aus, dass die jüngeren Gesetze die älteren lediglich ergänzen und mit ihnen zusammen gelesen werden wollen. Einen anderen Weg schlagen jüdische Forscher wie J. Milgrom und M. Weinfeld, aber auch G. Braulik und J. G. McConville ein, welche ein umgekehrtes Abhängigkeitsgefälle von H nach D postulieren. Während die Priorität von BB kaum bestritten wird, ist es letztlich das Verhältnis von H und D, welches zur Debatte steht – oder in der an die Rechtshermeneutik der Tora angelehnten Terminologie des Vf.s: Jahwetora (Ex-Num, vor allem P/H) als das von Jahwe gegebene Gesetz, und Mosetora (Dtn) als das durch Mose ausgelegte Gesetz (3).
Nach Ansicht des Vf.s muss die Abhängigkeitsrichtung innerhalb der Gesetzestexte selbst entschieden werden, zunächst ohne Festlegung hinsichtlich absoluter Datierungen (30) und ohne Vorentscheidungen auf Grundlage gängiger Pentateuchmodelle, welche in der Regel durch Beobachtungen in den Narrativtexten ge­prägt sind. Dass diese Aufgabe bereits durch A. Cholewiński (1976) erledigt worden sei, lässt der Vf. nicht gelten, da dieser die Priorität von D als gegeben voraussetzt (13 f.).
Methodisch versucht der Vf., die durch den Neutestamentler R. B. Hays erarbeiteten Kriterien für die Plausibilität literarischer Abhängigkeit unter Einbeziehung von Beobachtungen durch D. Carr und M. Malul für die Gesetzestexte fruchtbar zu machen.
Die Untersuchung folgt dem kompletten Abschnitt Dtn 12–26 als Leittext, für welchen unter Abwägung jüngerer Forschungsbeiträge eine Dekalogstruktur angenommen wird. Für sämtliche Texte werden hebräischer Konsonantentext und Übersetzung mit relevanten Paralleltexten tabellarisch dargestellt. Eine Legende zum Verständnis der Hervorhebungen (kursiv, fett, einfach, gestrichelt, doppelt unterstrichen) bleibt ein Desiderat. Der Vf. verschafft nicht nur Kommentaren, sondern auch jüngeren Spezialuntersuchungen zu den einzelnen Abschnitten Gehör und bemüht sich trotz des gewaltigen Umfangs der untersuchten Passage darum, diachrone und synchrone Einzelfragen in angemessenem Rahmen mit zu berücksichtigen.
Das in Anhang A tabellarisch dokumentierte Ergebnis entspricht einem klaren Votum für die entstehungsgeschichtliche Anordnung BB-P/H-D. Bei einer Gesamtzahl von 340 Versen in Dtn 12–26 scheiden 180 Verse als dtn Sondergut aus. Von den verbleibenden 160 Versen werden 110 Verse als eindeutig/unumkehrbar abhängig von H eingestuft. Bei 50 Versen ist die Abhängigkeitsrichtung nicht eindeutig feststellbar (im Zweifelsfall kategorisiert der Vf. zu seinen Ungunsten, 333).
Das dtn Gesetz setze dabei nicht nur H, sondern »den Zusammenhang von Exodus, Levitikus und Numeri ungefähr in der Gestalt, in der das Material uns heute verfügbar ist« voraus (316). Ältere Gesetze werden nicht subversiv oder polemisch umgedeutet, sondern mit quasi-kanonischem Status behandelt und in eine neue Situation hinein weitergeführt (326). Dabei erscheint BB als eine Art Leittext, an dem sich D orientiert und dann das übrige Material aus P/H, aber auch Ex und Num entsprechend zuordnet. Dass aus BB lediglich die beiden kasuistischen Gebotsreihen in Ex 21,28–22,14 keine Aufnahme in D finden, ist sicherlich kein Zufall, wenn auch über mögliche Gründe nur spekuliert werden kann (309–312). Da D wenig Interesse an spezifischen Anweisungen für Priester zeige, gibt es zwischen P und D wenige Berührungspunkte, auch wenn die Kenntnis von P in D an einigen Stellen »durchschimmert« (313). Dasselbe gelte vom Prinzip her für H: Wo es an die Priester gerichtet ist (besonders Lev 21; 22; 24,1–9), wird es in D kaum rezipiert. Das dtn Sondergut wird dabei nicht als Zeuge eines ursprünglichen dtn Kerns verstanden, welcher sukzessive durch Material aus anderen Gesetzen erweitert wurde. Vielmehr seien dies diejenigen Passagen, in denen alte Gesetze unter neuen hermeneutischen Gesichtspunkten ausgedeutet und um spezifische Sonderregelungen erweitert werden. Das dtn Gesetz habe hier durchweg anpassenden und erweiternden Charakter.
Das mit statistischer Präzision konstatierte Ergebnis darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ermittlung der Abhängigkeitsrichtung im Einzelfall immer ein Wahrscheinlichkeitsurteil bleibt. Die Argumente für eine Abhängigkeitsrichtung sind dabei fast immer umkehrbar: Was einerseits als Erweiterung erklärt wird, kann andersherum als Kürzung gedeutet werden (92). Gerade die detaillierte Auseinandersetzung mit E. Otto im Vorfeld der eigentlichen Untersuchung verdeutlicht diese Problematik. Für Otto steht »zweifelsfrei fest«, dass Lev 19 aus BB und D zusammengestellt ist und die Rezeptionsrichtung unumkehrbar ist. Der Vf. zeigt in einer ausführlichen Darstellung Vers für Vers, dass sich sämtliche Argumente Ottos umkehren lassen (52–63). Schwächt er damit nicht bereits von vornherein seine eigene Argumentation zu Dtn 12–26?
Der Vf. ist sich dieser Problematik wohl bewusst. Sein Hauptargument sind von daher Texte in D, die zwei oder mehrere Texte der Jahwetora miteinander kombinieren, welche selbst nicht oder kaum aufeinander Bezug nehmen. Beispiele dafür sind Dtn 15,12–18 (Ex 21,2–11; Lev 25,39–46), Dtn 16,1–8 (Ex 23,15.18/ 34,18.25; 13,3–10; 12,1–20) und Dtn 24,10–25,4 (Ex 22–20–23,9; Lev 19). Für letzteren Abschnitt führt der Vf. in Exkurs II die Gegenprobe für die Modelle D-H-BB (Van Seters) und BB-D-H durch. Es wäre seltsam, wenn sich BB bzw. H ausgerechnet die Bestimmungen aus D »herausgepickt« hätte, die im anderen Gesetzeskorpus nicht aufgegriffen werden (279–282).
Hier lässt sich fragen, ob der Vf. diesen Gedanken nicht zu vorschnell verwirft. Auch wenn es etwas konstruiert anmutet, könnte man sich H als eine Art »Ergänzer« zu BB vorstellen, welcher auf recht penible Weise diejenigen (Teil-)Bestimmungen aus D zusammenstellt, welche in BB nicht vorkommen. (Es geht hier nicht nur um ganze Gebote, sondern oft um einzelne Worte aus BB und H, die in D miteinander kombiniert sind.) Auch wenn diese Idee einiges erklären kann, wirft sie schwerwiegende Probleme auf: Wenn H so genau darauf bedacht ist, den BB-Anteil aus D auszuscheiden, wieso greift H an anderer Stelle ohne Vermittlung von D auf BB zurück? Wie kommt es, dass H Teile aus D penibel zusammenstellt, andere Teile jedoch großzügig übersieht? Hätte H als »Ergänzer« aus D nicht insgesamt eine wesentlich stärkere dtn Färbung? So scheint die These einer Zusammenführung von BB und H in D hier wohl tatsächlich die einzige plausible Erklärung dieses Phänomens zu sein. Das gewonnene Ergebnis stellt die bisherige Mehrheitsmeinung vor eine Herausforderung. Mit der Abhängigkeitsrichtung ist jedoch weder eine absolute Datierung gewonnen noch ein neues Pentateuchmodell. Dennoch leistet vorliegende Monographie einen wertvollen Beitrag für diese Aufgaben.