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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

462-464

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Atkinson, Tyler

Titel/Untertitel:

Singing at the Winepress. Ecclesiastes and the Ethics of Work.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2015. XVI, 245 S. Geb. US$ 112,00. ISBN 978-0-567-65991-0.

Rezensent:

Rainer Kessler

Der Reiz dieser Arbeit von Tyler Atkinson, einer in Aberdeen unter der Anleitung von Brian Brock entstandenen Dissertation, liegt darin, dass sie an der Schnittstelle verschiedener theologischer Disziplinen angesiedelt ist. Der Untertitel gibt als biblischen Gegenstand den Prediger Salomo (Kohelet oder Ecclesiastes) an. Dazu kommt als systematisch-theologisches Thema die ethische Bewertung von Arbeit. Der Haupttitel ist, so erfährt man (161), einem Zitat aus Luthers Kohelet-Auslegung entnommen, wo er sagt, dass all unser Mühen wie das derjenigen sein sollte, die in der Kelter oder bei der Ernte singen, während sie arbeiten.
In der Einleitung kritisiert A., dass in der Regel Exegeten zu wenig nach der ethischen Relevanz ihrer Auslegung und theologische Ethiker zu wenig nach der Bibel fragen. Kann man dem generell zustimmen, so gilt es besonders für Kohelet. Um dieses Auseinanderklaffen zu vermeiden, geht A. nicht den direkten Weg, Kohelet und die Arbeitsethik in Beziehung zu setzen. Er wählt vielmehr den Umweg über die Kohelet-Lektüre des Franziskaners Bonaventura aus dem 13. und des Reformators Martin Luther aus dem 16. Jh. Dieser Entscheidung verdankt das Buch seine zwei aufregendsten Kapitel. Ziel ist es, über die Rezeption zweier vorkritischer Autoren einen Zugang zu Kohelet zu finden, der diesen für die heutige Ethik fruchtbar macht.
Im ersten von vier Hauptkapiteln fasst A. die Kohelet-Exegese zusammen. In einem »close reading« (63) arbeitet er sechs Themen heraus, die für das Denken Kohelets über die Arbeit relevant sind: die Gestalt Salomos; das vanitas-Motiv; die Frage nach Kohelets Erkenntnistheorie; seine Stellung zu Kult, Wirtschaft und Politik im Ptolemäerreich; sein Zeit-Konzept; und schließlich das sogenannte carpe-diem-Motiv, das sich wie ein Refrain durch die Schrift des Weisen zieht. Mit diesen Themen begibt sich A. in die Lektüre von Bonaventura und Luther. Das ist für ihn mehr als bloße Wirkungsgeschichte. Die vorkritischen Ausleger sind für A. eine theologische Verstehenshilfe für heute.
Die zwei Kapitel über Bonaventura und Luther umfassen die Hälfte der Arbeit und stellen ihr Herzstück dar. Das zweite Kapitel ist dem Doctor Seraphicus der Pariser Universität gewidmet. Bonaventura steht ganz in der Tradition, die in Kohelet einen Aufruf zum contemptus mundi, zur Weltverachtung, sieht. In dieser Tradition wird Kohelet als Mittelstück des dreiteiligen corpus Salomonicum aus Sprüche, Kohelet und Hohemlied gelesen. Sprüche enthält Salomos Ethik, Kohelet seine Buße, und das Hohelied spricht von der nach der Buße möglichen Vereinigung mit Gott bzw. Christus. Formal als scholastische Disputation aufgebaut, orientiert sich Bonaventuras Kommentar an der Lehre des Aristoteles von den vier Ursachen. Der Anlass der Schrift, ihre causa efficiens, ist Salomos Erfahrung, die vor allem in Koh 1–3 niedergelegt ist und die ihn zur Buße treibt. Die Methode, die causa formalis, ist der Dialog. Kohelet in der Gestalt Salomos trägt nicht nur eigene Auffassungen vor, sondern lässt nach Bonaventura auch die Toren zu Wort kommen. Die Zitatentheorie der neueren Kohelet-Exegese hat also eine lange Vorgeschichte. Causa materialis der Schrift, also ihr Gegenstand, ist die Eitelkeit allen Seins, die vanitas. Das Ziel schließlich, zu dem Salomo seine Leserschaft führen will, die causa finalis, ist die Verachtung der Welt. Freilich muss diese für den christlichen Theologen Bonaventura, der Gott als den Schöpfer aller Dinge bekennt, relativiert werden. Die Werke der Schöpfung sind durchaus zu achten, weil sie von Gott zeugen. Aber im Vergleich mit der Liebe, die Gott gebührt, sieht die Achtung der Welt wie Verachtung aus. »Proper contemptus mundi, then, means loving the Creator of whom creaturely gifts speak in such a way that love for the gifts is as no-thing compared to the love for the Giver.« (118)
Kommt man von Bonaventura her, sieht man, wie revolutionär Luthers Kohelet-Lektüre ist, die A. im dritten Kapitel nachzeichnet. Natürlich ist auch für Luther Salomo der Autor. Aber die Schrift ist Luther zufolge kein Traktat, der zur Buße anleitet, sondern Salomos Anweisung an seinen Hof, was die Dinge der Ökonomie und Politik angeht, Politica vel Oecomonica Salomonis (WA 20,8). Dabei lehnt Luther A. zufolge das tradierte contemptus-mundi-Konzept keineswegs rundum ab. Aber während Bonaventura es nur schwach korrigierte, steht bei Luther die Hinwendung zu den weltlichen Dingen im Zentrum der Auslegung. Er sieht sich in einer doppelten Frontstellung. Die eine Front ist die antike und mönchische Tradition der Weltverachtung. Ihr stellt Luther die Aufforderung entgegen, in den weltlichen Dingen selbst Gott zu dienen. Die an­dere Frontstellung ist gegen die Gier gerichtet, sich Reichtum und Glück selbst schaffen zu wollen. Das macht Luther zwar wiederholt an Alexander dem Großen fest, der sich mit der einen Welt nicht begnügen wollte. Aber im Hintergrund steht das zu Luthers Zeit mächtig sich entfaltende moderne Handelskapital, das sich an­schickte, die Welt zu erobern. Dieser Haltung gegenüber kommt Luther zu einer »modified version of contemptus mundi« (143), die die Dinge der Welt nicht verachtet, aber als Gottes Gabe demütig in Gebrauch nimmt.
Viele lesenswerte Ausführungen A.s zu Luther müssen hier übergangen werden (Kohelet als die Confessiones Salomos im Vergleich mit denen Augustins, Kohelet als weltliches Gegenstück zur Bergpredigt, Luthers Lehre von den drei Ständen und ihre Bedeutung für die Kohelet-Lektüre). Wichtig für A.s eigene Deutung ist sein Zugriff auf Luthers Zeitverständnis, das er am Begriff des »Stündeleins« festmacht. Es handelt sich um den Kairos, den es zu ergreifen gilt – wie übrigens die Septuaginta im Zeit-Gedicht Koh 3 auch das Hebräische übersetzt. Luther wendet sich, so A., gegen ein Spekulieren auf die Zukunft (die concupiscentia futurorum) und vertritt eine präsentische Eschatologie. »The point is that one need not wait for heaven to experience pleasure in God: in a clear example of ›realized eschatology‹, Luther says that when one finds joy in labor […], even in the midst of the world’s evils, one enters Paradise« (177).
Im vierten Kapitel schließlich wertet A. seine Lektüre Bonaventuras und Luthers aus und unternimmt den Versuch, mit deren Hilfe Kohelets Arbeitsethik für heutige Ethik fruchtbar zu machen. Er bietet dazu die Kategorien Protologie, Eschatologie und Christologie auf: »the work ethic I locate in Ecclesiastes is grounded in a theological imagination that simultaneously works protology and eschatology through christology […]« (190). Nun kann man in Kohelet Schöpfungsdenken finden und das Protologie nennen. Von Kohelets Zeitkonzept, das sich als präsentische Eschatologie verstehen lässt, war schon die Rede. Zur Christologie kommt A. über eine Lektüre von Koh 1,10, wo er dābār nicht als »etwas«, sondern als Wort im Sinn des Logos versteht und den Vers präexistenzchristologisch übersetzt: »There is a Word of whom one says, ›Behold this one! New he is!‹ He has already existed for ages before us« (195, Anm. 14). »Christ the Word descends to meet humans where they are […]« (196). »The coming of Christ to the worker in the midst of labor opens the worker’s eyes to see creation in a new way.« (197)
Auch wenn man als Exeget das Eintragen systematisch-theologischer Kategorien nicht als hilfreich und im Fall der Christologie auch exegetisch für fragwürdig hält, verdienen die konkreten Ergebnisse A.s in Bezug auf eine moderne Arbeitsethik im Licht Kohelets Beachtung. Kohelet romantisiert die Arbeit nicht, aber er kennt die Freude »in der Arbeit« (3,13). Da für ihn alles am Hier und Jetzt hängt, kritisiert er entmenschlichende Arbeitsbedingungen in seiner ptolemäisch geprägten Welt. Mit Kohelet lässt sich kein kapitalistisches Konkurrenzethos (compatitive-capitalist ethos, 207) begründen, dem eine »Eschatologie« der Gier zugrunde liegt. Kohelets work ethics (Arbeitsethik) befreit ihn vor der works-right-eousness (Werkgerechtigkeit), die sich das Heil selbst erwerben will– ein Wortspiel, das nur im Englischen funktioniert. Kohelets Refrain vom Genuss des Alltags ist, so schließt A. sein trotz der nur schwer zugänglichen Dogmatisierung lesenswertes Buch, »a song of both protest and praise« (224).