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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

460-462

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Toledot Yeshu

Titel/Untertitel:

The Life Story of Jesus. Two Volumes and Database. Ed. and Transl. by M. Meerson and P. Schäfer with the collaboration of Y. Deutsch, D. Grossberg, A. Manekin, A. Yoffie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. Vol. 1: Introduction and Translation. Vol. 2: Critical Edition. XVII, 716 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 159. Lw. inkl. Datenbankzugang. EUR 379,00. ISBN 978-3-16-153481-2.

Rezensent:

Günter Stemberger

Die Toledot Yeshu, eine populäre polemisch-satirische Darstellung des Lebens Jesu aus jüdischer Sicht, sind in verschiedenen Rezensionen überliefert. Schon Bischof Agobard von Lyon (769–840) und sein Nachfolger Amulo kannten eine Fassung des Textes. Einen ersten vollen Text übersetzte Raymund Martini in seiner großen Polemik gegen das Judentum, dem »Glaubensdolch« (Pugio Fidei, um 1270), ins Lateinische; eine andere lateinische Übersetzung erstellte Thomas Ebendorfer, Rektor der Wiener Universität, um 1420 mit Hilfe eines jüdischen Konvertiten; eine erste deutsche Übersetzung, die auf den lateinischen Text von Martini zurückgeht, ließ Martin Luther 1543 drucken. In diesen und anderen Fassungen erlebten die Toledot Yeshu weite Verbreitung und eine lange Wirkungsgeschichte. Die ernsthafte wissenschaftliche Erforschung setzt mit Erich Bischoff ein, der 1895 eine jiddische Fassung publizierte und die ihm bekannten Toledot-Yeshu-Handschriften zu klassifizieren versuchte. Auf ihm baute Samuel Krauss auf, Professor an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien, der 1902 »Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen« vorlegte und dafür schon 22 Handschriften verwerten konnte. Inzwischen sind über hundert Handschriften be­kannt. Diskutiert wird, ob die verschiedenen Rezensionen auf eine gemeinsame Vorlage aus den ersten Jahrhunderten zurückgehen (Proto-Toledot-Yeshu) oder im Lauf der Jahrhunderte von verschiedenen Autoren weiterentwickelt wurden.
Die an sehr verstreuten Stellen publizierten Texte, Übersetzungen und Untersuchungen machten es zunehmend kompliziert, sich mit dem Stand der Forschung vertraut zu machen. Hier stieg das von Peter Schäfer 2008 initiierte Princeton Toledot Yeshu Project ein. Sein Ziel war es, alle erhaltenen Toledot-Yeshu-Handschriften zu sammeln und zu transkribieren, um sie über eine elektronische Datenbank öffentlich zugänglich zu machen und eine systematische Analyse der Struktur der verschiedenen Textzeugen und ihrer einzelnen Abschnitte zu ermöglichen. Dazu organisierte P. Schäfer 2009 in Princeton eine Tagung mit den meisten derzeit in der Erforschung der Toledot Yeshu involvierten Spezialisten, um den status quaestionis und die verschiedenen vertretenen Positionen dazu zu dokumentieren (Toledot Yeshu [»The life story of Jesus«] Revisited. A Princeton Conference, ed. by Peter Schäfer, Michael Meerson and Yaacov Deutsch [TSAJ 143], Tübingen: Mohr Siebeck 2011). Von besonderem Interesse ist in diesem Band (13–26) die Analyse der Sprache der aramäischen Fragmente der Toledot Yeshu durch Michael Sokoloff, der ihre Abfassung in die Zeit zwischen ca. 500 und 600 datiert.
Mit der vorliegenden Publikation ist das ambitionierte Unternehmen abgeschlossen. Der erste Band bietet nach einer knappen Darstellung der Forschungsgeschichte eine Klassifikation der erhaltenen Textzeugen in drei Gruppen, die wieder in verschiedene Rezensionen unterteilt werden. Die älteste Gruppe I umfasst nur fragmentarisch erhaltene aramäische und hebräische Handschriften, die wiederum in frühe orientalische Rezensionen A–C, frühe jemenitische und byzantinische Handschriften untergliedert werden; sie wurden zwischen dem 10. und dem 13. Jh. in Babylonien und Ägypten kopiert. Inhaltlich reichen die erhaltenen Texte von der Verhaftung Jesu über seinen Prozess bis zu Hinrichtung und Begräbnis. Die verbleibenden etwa hundert Handschriften wurden nach inhaltlichen Kriterien als Gruppen II und III in verschiedenen Rezensionen klassifiziert; am frühesten belegt ist die Fassung »Ashkenazi A« der Gruppe II, die schon Raymund Martini und in einer etwas ausführlicheren Version Thomas Ebendorfer belegen. Die verschiedenen Versionen beider Gruppen setzen schon bei Empfängnis und Geburt Jesu ein, schildern seinen Abfall und seine Bannung, den Aufstieg zur Macht durch den gestohlenen Gottesnamen, die Konfrontation mit den Rabbinen und schließlich Prozess und Hinrichtung bis zum Begräbnis. Auf diese Klassifizierung anhand der Gesamtstruktur der einzelnen Fassungen folgt eine detaillierte vergleichende Untersuchung der einzelnen Episoden im Leben Jesu; erst auf dieser Ebene ist auch die Frage nach den Quellen sinnvoll.
Es folgt ein umfangreicher Teil mit den Übersetzungen der Textzeugen der Gruppe I und ausgewählter Handschriften der beiden anderen Gruppen, jeweils mit ausführlichen Anmerkungen zu den rabbinischen Quellen und biblischen Vorlagen einzelner Ab­schnitte, Übersetzungsproblemen und Varianten in Parallelfassungen. Die Übersetzungen sind absolut zuverlässig, wie an den im zweiten Band publizierten aramäisch-hebräischen Fassungen überprüft werden kann; der Anmerkungsapparat ist äußerst hilfreich. Gute Register und eine ausführliche Bibliographie beschließen den ersten Band.
Der zweite Band bietet zuerst eine Beschreibung der aramäischen und hebräischen Handschriften, jeweils mit einer Abbildung eines Textausschnitts und den üblichen Angaben zur Handschrift wie Schreibername, Kolophon, anderen Texten in derselben Handschrift usw. Die jiddischen und judeo-arabischen Handschriften, zwei Manuskripte in Ladino und eine judeo-persische Handschrift werden zur Vollständigkeit aufgelistet, auch wenn sie nicht publiziert werden. Es folgen die Transkriptionen der Fragmente aus der Geniza und dazugehöriger Handschriften sowie der Handschriften der beiden anderen Gruppen, untergliedert nach den einzelnen Episoden, was eine schnelle Orientierung erlaubt. Wo immer es enge Parallelen zwischen zwei oder drei Textzeugen gibt, werden diese synoptisch wiedergegeben. Ein umfangreicher Variantenapparat und die Korrektur von Verschreibungen usw. komplettieren die Textwiedergabe, die, wie heute gewohnt, nicht nur Blattangaben der Handschrift, sondern auch die Zählung der Zeilen enthält.
Eine wesentliche Ergänzung der Edition ist die damit verbundene Online-Datenbank, deren Zugang im Preis der beiden Bände inkludiert ist. Sie enthält die komplette Transkription aller 107 Handschriften und ist voll nach Wörtern und Phrasen durchsuchbar. In der Ergebnisliste ist das gesuchte Wort jeweils farbig markiert; ein Link führt zur jeweiligen Handschrift, in der die gesuchte Stelle zwar nicht markiert ist, doch über eine Suche innerhalb der Handschrift leicht auffindbar ist. Wichtig ist auch die Funktion, mit der einzelne Episoden in verschiedenen Textzeugen verglichen werden können; dabei werden die Parallelen farblich markiert; die Textpassagen werden nicht synoptisch, sondern untereinander wiedergegeben. Doch lässt sich eine Synopse leicht erstellen, indem man die einzelnen Fassungen in die Spalten der eigenen Textverarbeitung kopiert. Auch für Zitate in der eigenen Arbeit ist es höchst nützlich, dass jeder Text auch in eine Textdatei kopiert werden kann.
Man kann die Bedeutung dieser Edition nicht übertreiben. Sie bietet erstmals den Volltext aller derzeit bekannten aramäisch-he­bräischen Textzeugen der Toledot Yeshu in voll zuverlässiger Transkription, durchsuch- und kopierbar, verbunden mit der Möglichkeit eines systematischen Textvergleichs. Dazu kommt eine umfassende Einführung in die Thematik und Traditionsüberlieferung sowie eine englische Übersetzung aller wichtigen Textzeugen. Die Erforschung der Geschichte und der einzelnen Versionen des jüdischen Lebens Jesu ist damit auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dafür haben sich die Herausgeber und das Team hinter ihnen den tiefsten Dank aller am Thema Interessierten verdient. Eine großartige Leistung!