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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

436-438

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Muirhead, Andrew T. N.

Titel/Untertitel:

Reformation, Dissent and Diversity. The Story of Scotland’s Churches, 1560–1960.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2015. 256 S. Kart. US$ 35,95. ISBN 978-1-44113903-0.

Rezensent:

Martin Ohst

In dem Buch waltet eine Geistes- und Sinnesart, die in Deutschland extrem selten geworden ist, nämlich ein humorvoll-aufgeklärter christlicher Patriotismus. Andrew T. N. Muirhead – ein Bibliothekar, entsprechend exakt und exquisit ist das Literaturverzeichnis – will seinen Lesern die besondere religiös-kulturelle Prägung ihrer Lebenswelt und ihrer Familiengeschichten bewusst machen – schottischen Lesern also, bei denen er die Vertrautheit mit den dramatischen Wendungen der schottischen Geschichte im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit voraussetzt, und darum sollten deutsche Leser für einen Ploetz oder einen dtv-Geschichtsatlas in Griffweite sorgen. Seiner eigenen Herkunft nach ist der Vf. Presbyterianer mit presbyterianischen Vorfahren – allerdings von sehr unterschiedlicher kirchlicher Couleur (2), und wenn man mit diesem ausgezeichneten Buch fertig ist, dann weiß man, was hinter diesen prima vista völlig rätselhaften Bezeichnungen steckt, und vermag auch der schematischen Darstellung (213) ansatzweise Verständnis abzugewinnen. Sein Patriotismus ist es nicht zuletzt, der ihn auch andere Spielarten christlicher Religion in seiner Heimat vom römischen Katholizismus bis zu Antitrinitariern oder Mormonen bei allem deutlichen Differenzbewusstsein mit einem hohen Maß an Achtung wahrnehmen lässt – sofern sie sich von »sectarianism« freihalten, den er jedoch im Schwinden sieht: Selbst zwischen Katholiken und Protestanten herrsche er derzeit nurmehr »in Scotland’s football industry« (210).
Der Stoff ist gegliedert in drei Zeitabschnitte, die jeweils in Überblickskapiteln dargestellt werden: »Reformation and Revolution« (1560–1688, 5–25), »After the Revolution« (1688–1843, 43–64), »Disruption to Diversity« (1843–1900, 125–140) und »The Twentieth Century« (1900–1960, 201–212). Mit dem 400-jährigen Jubiläum der schottischen Reformation, deren eigentlichen Beginn der Vf. also mit den epochalen Stationen der Wirksamkeit von John Knox nach seiner Rückkehr aus dem Exil datiert, endet die Darstellung. Grund dafür ist ein durchaus verständliches Misstrauen gegen allzu zeitnahe Historiographie – so schade es bleibt, dass die schottischen Autonomiebestrebungen der letzten 40 Jahre und ihre kirchlichen Resonanzen deshalb unberücksichtigt bleiben. Diese Überblickskapitel kann man auch hintereinander im Zusammenhang lesen. Zwischen sie schiebt der Vf. die weiteren Abschnitte, welche die einzelnen Kirchen und Denominationen schildern, die mit- und gegeneinander dafür sorgten, dass Schottland »at times the most church-guided nation in Europe« (31) war. Für den Leser mit konfessionskundlichem Interesse wird dabei der Presbyterianismus von besonderem Interesse sein, der, geistig beheimatet im Genf Calvins, hier so lange und deutlich wie nirgends sonst seinen Anspruch zu erproben vermochte, die gesamte Gesellschaft nach seinen Vorgaben zu ordnen und zu prägen. Er musste ihn zunächst gegen das bischöfliche Kirchenregiment der beiden ersten Stuart-Könige durchsetzen und stand auf dem Höhepunkt seiner Macht, als 1645 das Gesetzgebungswerk der »Westminster Assembly of Divines« entstand, in dessen Zentrum die Westminster Confession, das bleibend wichtigste Lehrbekenntnis des Presbyterianismus, stand. Aber es folgte der Bürgerkrieg, der auch in Schottland zu­nächst den Independentismus, der hier keine autochthonen Wurzeln hatte, zur Herrschaft brachte und dann die Restauration der Stuarts, gegen deren Einmischungen in die kirchliche Selbständigkeit sich wieder, wie zu Zeiten Knox’, »Covenants«, also religiöse Schwurgenossenschaften, bildeten, die, obgleich prinzipiell roya-listisch gesinnt, einen brutalen Kleinkrieg zur Durchsetzung ihres Ideals kirchlicher Autonomie vom Zaun brachen. Die Thronbesteigung Wilhelms von Oranien auch als König von Schottland machte die presbyterianische »Kirk of Scotland« zwar nicht zur einzigen Kirche, aber zur religiösen Hegemonialmacht im Lande. Mit diesem Arrangement war aber auch eine Reihe von Konflikten angebahnt, in denen es immer wieder um ein einziges Thema ging: Welchen Grad an Beeinflussung durch weltliche Instanzen kann das einen Führungs- und Erziehungsanspruch auf das ganze Ge­meinwesen erhebende presbyterianische Kirchenverfassungs-system vertragen, ohne unheilbaren Schaden an seiner bestimmungsgemäßen Autonomie zu nehmen? Konkreter Stein des Anstoßes war der Patronat der Grundherren (»heritors«), der städtischen Magistrate und der Krone, der 1712 wieder eingeführt wurde und außerkirchlichen Instanzen Rechte bei der Besetzung von geistlichen Ämtern einräumte. Immer wieder spalteten sich Gruppen oder ganze Gemeinden von der Kirk of Scotland ab, weil sie hier unerträgliche Grenzverletzungen wahrnahmen. Diese Abspaltungen übernahmen selbstverständlich die geltenden Lehr- und Le­bensordnungen und unterschieden sich von der Großkirche bzw. von konkurrierenden Organisationen lediglich dadurch, dass sie den Anspruch erhoben, diesen mit einem höheren Grad an Treue zur lebenspraktischen Durchsetzung zu verhelfen. Auch in den diszi-plinarischen Ansprüchen, welche sie an ihre Glieder stellten (sehr erhellend und informativ: 83–103), unterschieden sie sich nur graduell, aber keineswegs prinzipiell. Die größte dieser Kirchenspaltungen war die »Disruption« des Jahres 1843, die mit Thomas Chalmers verbunden ist – von diesem zeichnet der Vf. ein Bild, das jedenfalls für einen Leser, der von Karl Holls großartiger Studie (Ges. Aufs. Bd. III, 404–436) geprägt ist, überraschend kritisch ausfällt: Chalmers’ Diakonie-System in seiner Gemeinde am Rande von Glasgow be­zeichnet der Vf. als »essentially a paternalistic experiment, where the better-off worked to bring benefit to the poor who in turn were meant to be duly grateful« (60); obendrein sei es letztlich unpraktikabel gewesen: »it is tempting to suggest that he left just before the bubble burst« (ebd.). Die 1843 entstandene Free Church übte eine starke Sogwirkung auf ältere, kleinere presbyterianische Freikirchen aus, und 1929 vereinigte sie sich mit der Kirk of Scotland. Weiterhin standen Gruppen abseits, aber dennoch: Nach mehr als 200 Jahren war die große Mehrheit der schottischen Presbyterianer in einem einzigen Kirchenkörper vereint, in welchem wesentliche Teile des geschichtlichen Erwerbs ihren wirksamen Fortbestand fanden: »The national Church of Scotland kept its name, but in many other ways, it was the United free ethos that prevailed« (207).
Das Buch ist außergewöhnlich lehrreich; seine klare, pointenreiche Prosa macht es zum Lesegenuss – auch und gerade in einer Zeit, da hierzulande vielen jedes geschichtlich gewachsene Differenzbewusstsein unerträglich zu sein scheint und das nahende Reformationsjubiläum zwischen den Mühlsteinen der Political Correctness und der zwanghaften, vom römischen »Ökumenismus« diktierten Einheitsrhetorik zerrieben wird.