Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2016

Spalte:

430-432

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bärsch, Jürgen, u. Winfried Haunerland [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liturgiereform und Bistum. Gottesdienstliche Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Hrsg. unter Mitarbeit v. F. Kluger.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2013. 584 S. = Studien zur Pastoralliturgie, 36. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-7917-2542-0.

Rezensent:

Alexander Deeg

Die Herausgeber Jürgen Bärsch und Winfried Haunerland haben nach dem 2010 erschienenen Band »Liturgiereform vor Ort« (StPaLi 25, vgl. die Rezension in ThLZ 136 [2011], 969 f.) einen weiteren Beitrag zur »liturgische[n] Zeitgeschichtsforschung« (531) vorgelegt. Der durch ein von Florian Kluger erstelltes Register zu Personen und Sachen ausführlich erschlossene Sammelband mit 16 Beiträgen setzt die Studien zur Rezeption der Liturgiereformen des Zweiten Vatikanischen Konzils fort und richtet nach dem auf die Pfarreien fokussierten Band den Blick nun auf die Ebene der Diözesen.
Die Beiträge sind individuell gestaltet und doch vergleichbar strukturiert. Sie setzen mit grundlegenden Informationen zu dem jeweiligen Bistum und Kontext ein, blicken dann auf die liturgischen Reformen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil und widmen sich im ausführlichsten Abschnitt der Umsetzung der Liturgiereformen des Konzils in dem jeweiligen Kontext. Kurze Zusammenfassungen und Ausblicke schließen die Artikel ab. Methodisch gehen die Beiträge meist (eine Ausnahme ist etwa der Artikel aus Chile) von schriftlich vorliegenden Quellen der Diözesen (Kirchenzeitungen, Verlautbarungen etc.) bzw. Archivquellen (vor allem zur Arbeit der Liturgiekommissionen) aus.
Die ersten zehn Artikel nehmen Diözesen in Deutschland in den Blick, die sich durch den divergierenden Einfluss der liturgischen Be­wegung vor dem Konzil und durch unterschiedliche Akzente in der Umsetzung des Konzils unterscheiden. Ulrich Müller (11–46) macht anhand des 1963 ernannten Augsburger Bischofs Josef Stimpfle vor allem die Bedeutung handlungstragender Persönlichkeiten deutlich. Stephan George nimmt das Bistum (Dresden-)Meißen in den Blick (47–82) und zeigt die völlig andere Situation in der Diaspora und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Das Interesse der Reform in den 1960er und 1970er Jahren lag (wie bereits die Arbeit der Leipziger Oratorianer) auch an dem Dialog mit den Menschen »am Rand« und jenseits der Kirche sowie auf ökumenischen Fragen. Interessant in diesem Beitrag ist auch der Blick auf die Herausforderung bei der Übersetzung liturgischer Texte durch die relativ kleine Sprach- und Volksgruppe der katholischen Sorben (vgl. 76 f.). Der Mitherausgeber Jürgen Bärsch blickt auf das Bistum Eichstätt (83–123) und benennt vor allem das Forschungsdesiderat, die in der Diözese insgesamt wahrgenommenen Entwicklungen mit der Arbeit in den einzelnen Pfarreien in Beziehung zu setzen. Stephan Wahle untersucht die Erzdiözese Freiburg (125–160) und erkennt die Zusammenhänge zwischen Liturgiereform und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die generell einer intensiveren Untersuchung harren. In Freiburg wie auch in Fulda, das Cornelius Roth genauer beschreibt (161–191), waren eher konservative Oberhirten aktiv. In beiden Fällen führte das zu einem ausgleichenden kirchlichen Handeln und einer »gemäßigten« Umsetzung der Konzilsbeschlüsse. Im Erzbistum Köln, das Friedrich Lurz untersucht (193–230), wurde das vorsichtig-kritische Handeln der Diözesanleitung gegenüber liturgischen Reformvorschlägen und Experimenten aus den Gemeinden durch die Entscheidungen aus Rom kritisiert und so die Autorität der Diözesanleitung gleichsam höchstkirchlich untergraben. Franz-Rudolf Weinert und Werner Fey untersuchen das Bistum Mainz (231–256) und konzentrieren sich vor allem auf die tragenden Personen der liturgischen Erneuerung. Heinrich Plock und Stephan Winter gehen für ihre Darstellung der Entwicklungen im Bistum Osnabrück (257–303) primär von bischöflichen Silvesterpredigten und Fastenpredigten einerseits, Artikeln in der Kirchenzeitung »Der Kirchenbote« andererseits aus, die in zwei Anhängen aufgeführt werden. Nur angedeutet wird in dem Beitrag ein Thema, das weitere Untersuchungen rechtfertigen würde: Besonders im Bistum Osnabrück (und in Bremen) wurden Impulse von Huub Oosterhuis und weiteren Vertretern der niederländischen liturgischen Erneuerung intensiv rezipiert. Bettina Kaul geht bei ihrer Darstellung des Erzbistums Paderborn von dem Handeln und den Veröffentlichungen der Bistumsleitung und von der Bistumspresse aus (305–343). Auch sie deutet an, dass eine Untersuchung auf der Ebene der Pfarreien und ggf. auch eine Befragung von Zeitzeugen zu weiteren Forschungsergebnissen führen könnten. Schließlich zeigt Gabriele Zieroff, wie in dem »musikalischen Bistum Regensburg« (345–376) die Kirchenmusik als »Indikator liturgischer Erneuerungsbestrebungen« (347) – bzw. deren Verweigerung – wahrgenommen werden kann. Konkret blickt sie illustrativ (und weit über die Grenzen der katholischen Kirche bedeutsam) auf die Auseinandersetzungen um die neuen Formen der »Jazz- und Beatmessen«.
Jeweils ein Beitrag widmet sich der Situation in der Schweiz und in Österreich: Birgit Jeggle-Merz stellt dar, wie im Bistum Basel vor allem die liturgische Bildung als Aufgabe wahrgenommen und von der Basler Liturgischen Kommission bearbeitet wurde (377–414). Stefan Kopp beschreibt die Entwicklungen in der österreichischen Diözese Gurk (415–438), die – ähnlich wie das Bistum (Dresden-) Meißen – durch eine Zweisprachigkeit (hier Deutsch und Slowenisch) gekennzeichnet ist.
Drei weitere Beiträge gehen über den deutschsprachigen Kontext hinaus und machen deutlich, dass eine komparative Studie durchaus in der Lage wäre, noch weitere Forschungsfragen zu ge­nerieren. Als besonders ergiebig erweist sich dazu der Artikel von Jo Hermans, der die Situation in den Niederlanden allgemein und konkret die niederländische Diözese Roermond untersucht (439–486). Hermans bettet seine Darstellung ein in die Wahrnehmung der gesamtgesellschaftlichen Situation in den Niederlanden, wo innerkirchlich emanzipatorische Bewegungen und die Frage nach der Rolle der Laien eine große Rolle spielten und gesamtgesellschaftlich Prozesse der Säkularisierung bereits vor 50 Jahren deutlich zu erkennen waren. Auf diesem Hintergrund wurde nicht nur kritisch diskutiert, sondern wurden auch liturgische Spielräume erprobt (vgl. Huub Oosterhuis). Wissenschaftlich verschob sich die Perspektive von der Liturgiewissenschaft im engeren Sinne zu den Ritual Studies im weiteren Sinne. Dadurch wurden Rituale primär formal und funktional betrachtet und drohten so ihre spezifische materiale Grundierung zu verlieren und dadurch zu einem beliebigen und beliebig veränderbaren »Artikel mit Markteffekt« (484) zu werden. Ganz anders die Situation in Polen, die Zbigniew Stoklosa beschreibt (487–512). In der polnischen Kirche wurde nicht fehlendes aggiornamento als Problem wahrgenommen, sondern weit mehr der politisch-gesellschaftliche Druck auf die Kirche in einem kommunistischen Regime. Guillermo Rosas blickt auf Chile (513–529) – und die Besonderheiten dieses Landes und der katholischen Kirche in ihm. Zwischen der Hauptstadtregion Santiago und Ge­bieten im Norden oder Süden gestalteten sich gottesdienstliche Reformen in sehr unterschiedlichem Tempo.
Winfried Haunerland gibt in seinem abschließenden Beitrag (531–561) einen Überblick über den Forschungsstand zur liturgischen Zeitgeschichte auf ortskirchlicher Basis (mit Bibliographie) sowie eine Zusammenschau der Beiträge dieses Bandes und weiterer Ergebnisse der bisherigen Forschung. Gleichzeitig skizziert er Perspektiven für die weitere Forschung, für die er vor allem eine Ausweitung des Methodenarsenals andeutet und religionssozio-logische sowie religionspsychologische Perspektiven einfordert so­ wie eine grundlegende Einbettung in die allgemeine Zeitgeschichte. Abschließend stellt er die These auf, dass in den vergangenen 50 Jahren dem (primär formalen) Programmwort der par­ticipatio actuosa erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden sei als dem »heilsgeschichtliche[n] Materialprinzip des mysterium paschale« (560).
Insgesamt liegt ein illustrativer, materialreicher Band vor, der das Forschungsfeld dennoch nicht abschließend bearbeitet, sondern in vieler Hinsicht allererst erschließt. Von der Mittelebene der Diözesen ausgehend wäre sowohl auf die Ebene der Pfarrarchive und der einzelnen Handlungsträger zurückzufragen (wobei unbedingt auch die Perspektiven von Laien mit aufgenommen und die noch gegebene Chance für Zeitzeugeninterviews nicht verpasst werden sollte) als auch auf die gesamtgesellschaftliche Ebene. Er­gänzend zu den von Haunerland bereits genannten me­thodischen Erweiterungen erscheinen dann auch mentalitätsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche, aber auch empirische Studien hilfreich. Nicht zuletzt machen die Beiträge aus dem Ausland deutlich, wie ertragreich sich ein vergleichendes Arbeiten erweist, um den epochalen Wandel im liturgischen Leben durch die Liturgiereformen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu be­schreiben.
Nach annähernd 600 Seiten anregender Lektüre dieser katholischen liturgischen Zeitgeschichtsforschung bleibt für mich als evangelischen Theologen die Erkenntnis, dass sich vergleichbare Studien auch in den Kirchen der Reformation lohnen würden. Sie wären in der Lage, die bereits vorliegenden empirischen Wahrnehmungen zur Rezeption des Gesangbuchs oder des »Evangelischen Gottesdienstbuchs« durch eine zeitgeschichtliche Forschungsperspektive zu ergänzen und so den Boden für eine gegenwärtig anstehende Weiterarbeit an diesen Büchern zu bereiten.