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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

421-423

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ahrens, Petra-Angela

Titel/Untertitel:

Religiosität und kirchliche Bindung in der älteren Generation. Ein Handbuch. Hrsg. v. Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 348 S. m. Abb. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03907-4.

Rezensent:

Ralph Kunz

Es herrscht kein Mangel an empirischen Studien im Bereich der Alters- wie der Kirchenmitgliedschaftsforschung. Hingegen sind kaum Kirchen- und religionssoziologische Studien, die sich auf die über 60-Jährigen konzentrieren, vorhanden. Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD hat mit dem Forschungsprojekt »Religiosität und kirchliche Bindung in der älteren Generation« demnach eine Forschungslücke geschlossen. Der Bedarf ist ausgewiesen. Wie es um die Religiosität dieser Generation bestellt ist, muss die Verantwortlichen in der Kirche – gerade auch mit Blick auf die demographische Situation – interessieren. Nach Modellrechnungen ist derzeit rund ein Drittel der Evangelischen älter als 60. In 20 Jahren werden es 41 % sein (30).
Der Band ist in zwei Abschnitte gegliedert. Abschnitt I stellt unter dem Titel »Uns geht’s gut« nach einer Einführung zum Untersuchungskonzept (29–33) Lebensgefühl und Altersbilder der Generation 60plus dar (35–81), um dann spezifischer nach der Religiosität und der kirchlichen Bindung der Evangelischen zu fragen (83–150). Abschnitt II bietet thematische Schwerpunkte: eine vertiefte Analyse der Dimensionen der Religiosität (155–187), der Tradierung der religiös-kirchlichen Bindungen in der Familie (189–235), der Bedeutung kritischer Lebensereignisse (237–275) sowie der Milieudifferenzierung in der älteren Generation (277–298).
Die Repräsentativbefragung in Form von Face-to-Face-Interviews mit rund 2000 Befragten lieferte eine große Datenfülle, die übersichtlich dargestellt und immer wieder gut zusammengefasst wird. Das Hin und Her zwischen Detailanalysen und Gesamtschau macht den Reiz der Studie aus. Als zentrales Ergebnis kann festgehalten werden, »dass sich die ältere Generation – insbesondere die Befragten im ›dritten Alter‹ – von defizitären Altersbildern eher abgrenzt und vielmehr die positiven beziehungsweise aktiven (Selbst-)Zuschreibungen favorisiert. Dieser sich durch praktisch alle Fragen durchziehende Befund lieferte auch den Titel für die Veröffentlichung: ›Uns geht’s gut!‹ Darüber hinaus rechnen sich die meisten Befragten selbst gar nicht zu den Alten. Erst mit Beginn des ›vierten Alters‹, zum Ende des achten Lebensjahrzehnts verändert sich dieses Selbstverständnis. Die Religiosität dockt ihrerseits an die eher am Aktivitätsparadigma orientierten Einschätzungen an: Wer sich selbst als religiös versteht, äußert im Vergleich zu weniger religiösen Personen ein größeres Wohlbefinden, fühlt sich jünger und identifiziert sich stärker mit positiven beziehungsweise aktiven Altersbildern – und dies auch unabhängig von der eigenen Alterszugehörigkeit. « (19)
Es liegt also auf der Hand, dass eine kirchliche Altenarbeit, die weitgehend auf Fürsorge und Betreuung ausgerichtet ist, das dritte Alter verpasst (30). Gibt es andere Anknüpfungspunkte? Hilft die Studie, die religiöse Ansprechbarkeit dieser Generation zu klären? Die Quintessenz ist eindeutig. Für die religiöse Selbsteinstufung der Generation 60plus ist das Alter irrelevant. Der Begriff Altenarbeit, so muss man folgern, setzt also ein falsches Signal. Das zeigt sich vor allem im ersten Teil der Untersuchung, der Evangelische ebenso wie Konfessionslose in den Blick nimmt. Insgesamt kann auch konstatiert werden, dass sich die Bedeutung der Religiosität für das Lebensgefühl, individuelle und kollektive Altersbilder in engen Grenzen hält (79) und dort, wo sie bedeutsam ist, positiv mit einer intensiven Praxis korreliert.
Eine eingehendere Untersuchung der kirchlichen Nähe bestätigt den generellen Befund. Die Generation 60plus ist nicht stark kirchenverbunden. Beim Gottesdienstbesuch zeigt sich beispielsweise eine Steigerung mit dem Alter mit einer Spitze bei den 75-Jährigen. Danach sinkt die Beteiligung wieder. Es muss offen bleiben, ob sich darin ein Lebensalterseffekt abbildet, weil keine Vergleichsdaten zur Verfügung stehen (95). Aufschlussreich ist auch die Interpretation der Antworten auf die Frage nach der Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement. Sie ist insgesamt hoch zu veranschlagen. 37 % der Befragten geben an, gerne die eine oder an­dere Aufgabe zu übernehmen. Eine Altersdifferenzierung der Er­gebnisse zeigt nun wiederum, dass sich die 70- bis 74-Jährigen nachweislich stärker engagieren. Daraus lässt sich schließen, dass beim Eintritt in den Ruhestand anderes im Vordergrund steht. Hier wären sicher vertiefte Analysen gefragt (148–150). Zwei weitere Phänomene lassen sich am Beispiel der kirchlichen Freiwilligenarbeit beobachten: ein beachtliches Stadt-Land-Gefälle und ein starker Effekt der religiös-kirchlichen Nähe. Anders gesagt: Wer zur Kerngemeinde gehört, zeigt eine überdurchschnittlich hohe Bereitschaft, sich weiterhin im Bereich der Kirche zu betätigen.
Im Abschnitt II wird unter Verwendung des Zentralitätsmodells von Stefan Huber die religiöse Selbsteinstufung der älteren Generation genauer untersucht. Die Ergebnisse bestätigen weitgehend das Bild aus anderen repräsentativen Untersuchungen. Die Generation 60plus zeigt im Durchschnitt eine »eher verhaltene religiöse Orientierung« (186). Zu denken gibt dem evangelischen Theologen auch die Relativierung der klassischen Eschatologie. Hier werden übliche Zuordnungen »regelrecht auf den Kopf« (187) gestellt.
»Dies zeigt sich sehr eindrücklich in den Befunden zum Glauben an ein Leben nach dem Tod, der doch eigentlich gerade zum Lebensende hin seine Kraft entfalten sollte, als hoffnungsfrohe Aussicht, dass mit dem Tod eben nicht einfach das Ende besiegelt ist. In unserer Untersuchung lässt sich statistisch jedoch keine Relevanz des Alters für diese Glaubensüberzeugung bei den Evangelischen nachweisen.« (187)
Die Frage der Tradierung von Generation zu Generation wird differenziert beantwortet (189–235). Es bestätigt sich die hohe Relevanz der Familie als religiöse Sozialisationsinstanz; es zeigt sich dieser Effekt aber auch bei der Weitergabe nicht religiöser Haltungen. Die Befunde laufen darauf hinaus, dass es auf die in der Familie gelebte Haltung ankommt (233). Auffällig ist der Trend innerhalb der älteren Generation. Die mentale Distanz zur Kirche vergrößert sich im Laufe des Lebens. Ein erheblicher »Bedeutungsverlust der Tradierung« ist zu beobachten. »Offenbar gewinnt auch in der älteren Generation die eigene religiöse-kirchliche Entwicklung zunehmend an Relevanz.« (234)
Die Studie widmet sich auch der Frage, welche Umbruchsituationen die Befragten erinnern, wie sie diese bewerten und welche Bedeutung dabei der Religiosität und der kirchlichen Einbindung zukommt. Hier stößt das methodische Setting der Befragung an seine Grenzen. Ein Satz in der Zusammenfassung bringt es auf den Punkt: »Zu einer Klärung könnten wohl insbesondere qualitative Forschungen beitragen.« (274) Wenig Aufregendes enthält auch das letzte Kapitel: »Insgesamt bleibt damit die Erklärungskraft von sozialstrukturellen und milieubezogenen Aspekten für Religiosität und kirchliche Verbundenheit – von wenigen Ausnahmen ab­gesehen – auch bei den älteren Evangelischen gering.« (298)
Ein Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen, das Literaturverzeichnis sowie ein Anhang mit dem Nachweis der statistischen Analysen vervollständigen das Handbuch, das sowohl Forschenden wie Praktikern interessante Einsichten bietet. Die detaillierten Analysen lassen in der Gesamtschau ein Bild der kirchlichen Großwetterlage entstehen, das den Verantwortlichen in der Kirchen- und Gemeindeleitung wichtiges Hintergrundwissen für ihr Handeln vermittelt.