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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

419-421

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Segbers, Franz

Titel/Untertitel:

Ökonomie, die dem Leben dient. Die Menschenrechte als Grundlage einer christlichen Wirtschaftsethik.

Verlag:

Kevelaer: Butzon & Bercker 2015. 248 S. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-7666-2179-5.

Rezensent:

Ingo Pies

Wirtschaftsethik oder „Wünsch dir was“? – Franz Segbers hat mit seinem jüngst publizierten Buch einen Entwurf vorgelegt, der die Menschenrechte als Grundlage einer christlichen Wirtschaftsethik in Anspruch nehmen will. Zugrunde liegen drei Thesen.
Die erste These besagt, dass Menschenrechte mehr sind als bloße Moral und dass die Berufung auf Menschenrechte mehr ist als ein bloßer Appell, weil es sich um kollektiv anerkannte Rechte handelt, die man aufgrund ihres höherwertigen Verpflichtungsgrades nicht lediglich anmahnen, sondern einfordern und teilweise sogar einklagen kann (vgl. 14 ff. et passim). Damit rücken die Staaten ins Zentrum der wirtschaftsethischen Überlegungen von S., denn ihre Aufgabe wird darin gesehen, Menschenrechte direkt einzuhalten, aber auch indirekt durchzusetzen, indem sie politisch Ordnungsbedingungen schaffen, unter denen Menschenrechte zur Geltung kommen (vgl. 15 et passim).
Die zweite These betrifft die inhaltliche Orientierung, die S. zufolge von Menschenrechten ausgeht. Hierzu liest man (14):
»Die Menschenrechte versprechen kontrafaktisch allen Menschen das Recht auf ein Leben in Würde und garantieren Freiheitsrechte, politische Beteiligungsrechte sowie wirtschaftliche und soziale Rechte. […] Sozioökonomische Verhältnisse und wirtschaftliches Handeln müssen […] vor denen gerechtfertigt werden, die am wenigsten begünstigt sind. Eine menschenrechtsorientierte Wirtschaftsethik muss deshalb von den wirtschaftlichen und sozialen Rechten der Menschen am Ort der Arbeit ausgehen.«
In der Tat ist S.’ Wirtschaftsethik ganz auf die (Menschen-)Rechte der abhängig Beschäftigten fixiert. Sie deutet die christliche Option für die Armen um in eine Option für die Arbeitenden (vgl. 117 ff.).
Die dritte These betrifft die Verbindung zwischen den Menschenrechten einerseits und der christlichen Wirtschaftsethik andererseits. Hier vertritt S. (15) die Auffassung, »dass diese sozia-len Menschenrechte ohne den Hintergrund des biblischen Ethos kaum denkbar wären«. Einerseits weiß S. und weist es auch offen aus (15 f.), dass die Menschenrechte nicht durch die christlichen Kirchen, sondern ohne sie und teilweise sogar gegen ihren expliziten Widerstand verabschiedet und in Kraft gesetzt worden sind. Andererseits will S. ausdrücklich »nicht irgendwelche urheberrechtlichen Ansprüche auf die Menschenrechte« (15) erheben. Damit bleibt als Deutung, dass S. die These vertritt, die Menschenrechte seien zwar nicht unbedingt von der biblischen Rechtstradition inspiriert, aber doch mit ihr vereinbar. Hierfür spricht die folgende Auskunft (15):
»Der neuzeitliche Menschenrechtsgedanke hat […] Intentionen zur Geltung gebracht, die bereits in der biblischen Orientierung des Rechtsgedankens an der Situation der Armen, der ökonomisch Schwachen und sozial Schutzbedürftigen gegeben waren.« (Vgl. ergänzend 118 sowie 136 f.)
Gestützt auf diese drei Thesen, kennzeichnet S. sein Projekt mit den folgenden Worten (16): »Ich werde [...] eine zweipolige Wirtschaftsethik entfalten: menschenrechtsbasiert und an Impulsen der biblischen Ethik orientiert.« Da S. zudem umfänglich auf »das sozialethische Denken des Ökumenischen Rates der Kirchen« Bezug nimmt, beansprucht er, eine »ökumenische Wirtschaftsethik« (16) vorzulegen. Die Stärke des Buches besteht darin, nicht der Versuchung zu erliegen, biblische Narrative individualethisch als un­mittelbare Handlungsanweisung zu deuten (109). Der von S. vorgelegte Entwurf ist eindeutig ordnungsethisch ausgerichtet: Er will politisch die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens verändern (vgl. z. B. die Kritik am Weltethos-Projekt von Hans Küng, 34–39).
Allerdings leidet S.’ Entwurf auch unter einem gravierenden Defizit, das hier offen angesprochen werden muss: Die große Schwäche des Buches besteht darin, dass es ohne nähere Sachkenntnis der Wirtschaft (und auch der Wirtschaftswissenschaften) auskommen zu können glaubt. Das zeigt sich schon daran, dass ein Konflikt zwischen Arbeit und Kapital postuliert wird (vgl. 168 et passim), so als hätte es seit dem 19. Jh. keine empirischen Erfahrungen mit Sozialpartnerschaft (und seit Karl Marx keine Fortschritte ökonomischer Theoriebildung) gegeben. Dadurch erfährt sein gesamter Entwurf eine theoretische Schiefstellung: Anstatt sich damit auseinanderzusetzen, dass die Marktwirtschaft als ein System wechselseitiger Besserstellung eingerichtet wurde, dem es nachweislich gelungen ist, auf breiter Front Armut zu bekämpfen und in historisch nie gekanntem Ausmaß den Lebensstandard großer Bevölkerungsgruppen (einschließlich der Arbeitenden!) anzuheben, ist es für S. eine (angebliche) Ungleichbehandlung von Arbeit und Kapital, die den »Kapitalismus« von vornherein als ungerecht und sogar als zum System erhobene Menschenrechtsverletzung erscheinen lässt, so dass sich seine Wirtschaftsethik hier nur einen radikalen Systemwechsel – vulgo »Revolution« (78) – wünschen kann.
Apropos »Wünschen«: Mit seinem Plädoyer (214 ff.), sich gegen eine Ökonomie der Knappheit und stattdessen für eine Ökonomie der Fülle zu entscheiden, hat S. die Grenze zwischen einer konstruktiven Wirtschaftsethik und einem bloß utopischen Wünsch-Dir-Was eindeutig überschritten: Während die Ökonomie der Knappheit aus seiner Sicht anstrebt, menschliche Bedürfnisse durch Produktion zu befriedigen, folgt die von ihm favorisierte Ökonomie der Fülle der Annahme, dass Gott die Schöpfung bereits mit genügend Gütern ausgestattet hat, die nur noch gerecht verteilt werden müssen. In die gleiche Kategorie realitätsfernen Wünschens gehört übrigens auch der Versuch, auf den sich S. zustimmend bezieht (166), »Mutter Erde« ein »Recht auf Fortsetzung ihrer Zyklen und Lebensprozesse frei von menschlichen Eingriffen« zuschreiben zu wollen.
Nicht das normative Ordnungswollen von S.’ Wirtschaftsethik ist zu kritisieren, sondern ihre mangelhafte Wirtschaftskompetenz, wie z. B. die folgenden Punkte zeigen:
– Anders als von S. insinuiert (29 ff.45 ff.), ist die Menschenrechtssituation für die Beschäftigten transnationaler Konzerne nicht besonders schlecht, sondern besonders gut – sofern man sie nicht am Maßstab utopischer Ideale misst, sondern mit den relevanten Alternativen vor Ort vergleicht.
– Anders als von S. insinuiert (196 ff.), weisen sowohl die Praxis als auch die ökonomische Theorie der Arbeiterselbstverwaltung darauf hin, dass es den Arbeitenden, die in kapitalistischen Unternehmen Beschäftigung finden, vergleichsweise besser geht, weil sie von der höheren Effizienz in Form höherer Löhne und höherer Sozialstandards profitieren.
– Anders als von S. insinuiert (182 f.), sind hohe Sozialstandards – analog zu hohen Löhnen – nicht kostenlos zu haben. Von ihnen können nicht nur Inklusions-, sondern auch Exklusionswirkungen ausgehen, insbesondere Drittschädigungen in Form von Ar­beitslosigkeit.