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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

417-419

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Messer, Neil

Titel/Untertitel:

Flourishing. Health, Disease, and Bioethics in Theological Perspective.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. 256 S. Kart. US$ 35,00. ISBN 978-0-8028-6899-2.

Rezensent:

Niklas Schleicher

Neil Messer ist Professor für Theologie an der University of Winchester. Da er außerdem einen PhD in Molekular-Biologie besitzt, scheint es sehr interessant, ihn zu der vorliegenden Themenstellung zu lesen. Sein Ziel besteht darin, eine theologische Perspek-tive auf Ge­sundheit, Krankheit und Bioethik auszuarbeiten, so je­denfalls legt es der Untertitel des Buches nahe. Ausgearbeitet allerdings werden vor allem Gesundheit und Krankheit, an die Stelle einer genaueren Einordung von Bioethik, die nur am Rande eine Rolle spielt, tritt viel eher eine Diskussion von Behinderung ( disability) im Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit. Eine bioethische Reflexion über die Grenze zwischen Enhancement und Therapie, welche das vorgegebene Thema durchaus nahelegen würde, kommt dementsprechend nur am Rande vor. Das ist bedauerlich, da gerade das eine Frage wäre, die die Praxis im Umgang mit Krankheit und Gesundheit zu Reflexionen herausfordert.
Der Vf. gliedert das Buch in vier Kapitel, denen eine Einleitung und ein Schluss vorausgeht bzw. folgt. Im ersten Kapitel (»Philosophical Accounts of Health, Disease, and Illness«, 1–50) wird die philosophische Diskussion über dieses Thema dargestellt, die sich anhand der Definition von Gesundheit der World Health Organization (WHO) entzündet. Das Problem an dieser ist, so jedenfalls der Vf. und die von ihm dargestellten Autoren, dass ihre Definition (»Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity«) von Gesundheit einerseits zu vage ist und andererseits dadurch einen viel zu weiten Rahmen für Gesundheit steckt. Dies läuft konsequenterweise auf eine Medikalisierung der Gesellschaft hinaus. Im Anschluss daran werden andere Modelle zur Definition von Krankheit und Gesundheit vorgestellt. Zunächst präsentiert der Vf. den kontrastierenden Entwurf von Boorse (biostatistical model), der Krankheit und Gesundheit objektiv zu definieren versucht, indem statistische Normalität zugrunde gelegt wird. Zwischen diesen beiden Modellen verorten sich die anderen Zugriffe auf Krankheit und Gesundheit, wobei der Vf. hier nur englischsprachige Autoren und Autorinnen (Nordenfelt, Fulford, Toombs, Law and Widdows, Wakefield, Lilienfeld and Marino, Megone) vorstellt. Wichtig sind hier die unterschiedlichen Zugriffe auf die Unterscheidung von disease (objektiv messbares Übel) und illness (subjektiv empfun-denes Leiden), die bei unterschiedlichen Autoren jeweils unterschiedlich im Fokus liegen, und die Darstellung der teleologischen Mo­mente in den Definitionen von Krankheit und Gesundheit. Gesundheit sollte deshalb, so schließt der Vf. das Kapitel, gerade für den theologischen Zugriff im Anschluss an Karl Barth als »the strength for [human] life« (49) verstanden werden, so dass Leben zu gewissen Zielen (»goals«) strebt.
Das zweite Kapitel (»Disability Perspectives: Critical Insights and Questions«, 51–101) diskutiert den Zusammenhang von Krankheit/Gesundheit und Behinderung (disability). In den Fokus stellt der Vf. zunächst die Diskussion über die Frage, ob disability eher oder sogar ausschließlich ein soziales Problem oder als von beiden gleichermaßen bedingtes Phänomen ist. Die Fragen, die sich aus dieser Diskussion ergeben, sind vielfältig: Zunächst stellt sich die Frage, ob Probleme, die sich für menschliches Gedeihen (flourishing) ergeben, zu schnell individuell begriffen und medizinisch behandelt werden, obwohl sie eigentlich viel eher sozial verfasst sind. Daraus ergeben sich viele wichtige Anschlussfragen: Können Mittel anders verteilt werden, also wären in vielen Bereichen zum Beispiel Inklusionsmaßnahmen wichtiger als medizinische Forschung? Neigen wir dazu, Verschiedenheit (diversity) zu oft als Pathologie zu sehen? Wer entscheidet darüber, ob etwas eine Verschiedenheit oder eine Pathologie ist? Kurz: Die Grenzen zwischen Krankheit und Verschiedenheit sind alles andere als klar. Außerdem sind sie nicht nur medizinisch, sondern auch sozial bedingt.
Das dritte Kapitel (»Theological Resources for Understanding Health and Disease«, 103–161) versucht nun die gewonnenen Einsichten theologisch zu reflektieren und einzuordnen. Zunächst stellt der Vf. verschiedene biblische Zugänge zum Thema Krankheit und Gesundheit und die entsprechende Aufnahme in kirch-lichen Verlautbarungen dar. Kritisch sieht der Vf. die einfache Ge­genüberstellung von curing (ärztliches Heilen) und healing (Wie­derherstellung von menschlicher »Ganzheit«). Vielmehr ist Ge­sundheit als umfassendes Geschehen zu verstehen, zu dem eben auch das Fehlen von körperlichem Leiden gehört. Als theologische Gesprächspartner dienen dann Karl Barth und Thomas von Aquin. Barths Verständnis von Gesundheit als »strength for life« wird verstanden als die Antwortmöglichkeit auf den einen Teil des be­freienden Rufes Gottes, nämlich den Ruf zur »freedom for life«. Gesund zu sein und der Wille, gesund zu bleiben, ist deshalb im Sinne des Schöpfers. Krankheit wiederum kann und muss dann sowohl als Böses als auch als Erinnerung an unsere menschliche Begrenztheit verstanden werden. Ergänzt wird der Zugriff über Barth mit einem Verständnis einer Teleologie im Sinne Thomas’. Leben ist somit sowohl auf vorletzte als auch auf letzte Ziele gerichtet, wobei die vorletzten eben ein bestmögliches kreatürliches Leben erfordern. Das Kapitel schließt mit einer Betonung der Bedeutung der christlichen Praxis im Umgang mit Krankheit und Behinderung.
Das vierte Kapitel (»Theological Theses concerning Health, Dis­eases, and Illness«, 163–200) schließt die Überlegungen zusammenfassend ab.
Insgesamt legt der Vf. einen sehr interessanten und lehrreichen Entwurf vor, der die Diskussion über Krankheit und Gesundheit bereichern kann und auch praktisch-theologisch interessante Aspekte bereithält. Erfrischend ist auch die theologische Positionierung des Vf.s, was zur Klarheit des Buches beiträgt.
Drei kritische Anmerkungen in Ergänzung zur oben genannten sollen trotzdem erfolgen: Erstens ist es bedauerlich, wenn auch verständlich, dass der Vf. Krankheit und Gesundheit nur ausgehend von der WHO-Definition diskutiert. Ein etwas breiterer historischer Zu­griff hätte dem Buch noch größeren Nutzen verliehen. Zweitens bleibt es unklar, welche (vorletzten) Ziele denn menschliches Leben erreichen soll oder kann. Gerade auch aufgrund der Diskussion über Behinderung und aufgrund der Betonung der Bedeutung des teleologischen Zugriffs wäre eine Diskussion über Ziele sinnvoll gewesen. Drittens ist der wahrscheinlich wichtigste Gesichtspunkt: Bei aller Reflexion über Definition und Umgang mit Krankheit fehlt ein Nachdenken darüber, was es eigentlich für den Einzelnen oder die Einzelne heißt, krank zu sein. Gerade aus christlicher Perspektive kann sich das Nachdenken über Gesundheit und Krankheit nicht in einem »Reden über« erschöpfen, sondern sollte versuchen, die Perspektive des Kranken einzubeziehen. Biblisch würden dafür zum Beispiel die Klagepsalmen des Einzelnen Ressourcen bieten.