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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

415-417

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Thomas Sören, u. Marcus Knaup [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was heißt: In Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag 2015. 326 S. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-658-09776-9.

Rezensent:

Reiner Marquard

Das Buch ist eine wuchtige Streitschrift gegen eine an Boden ge­winnende »Mentalität des Machens« (9), die dem Tod die Unverfügbarkeit zu entziehen droht und das Sterben unter Kontrolle stellt. Eine in Kauf genommene »Normalisierung des Tötens« würde zwangsläufig dazu führen, dass Dritte dazu in die Pflicht ge­nommen werden können. Im Hintergrund steht die 2014 geführte Auseinandersetzung um den Regelungsvorschlag von G. D. Borasio, R. J. Jox, J. Taupitz und U. Wiesing, der Ausnahmefälle für den ärztlich assistierten Suizid vorsieht. Die Herausgeber (beide lehren an der FernUniversität Hagen am Institut für Philosophie) haben vier Verschweigungen (10 f.) ausgemacht, die rechtlich, medizinisch und philosophisch aufgearbeitet werden müssen: 1. Die De­batte um den assistierten Suizid wächst sich aus zu einer Debatte über eine » Pflicht zu sterben«. 2. Die Anzahl der Tötungen auf Verlangen in den Niederlanden und Belgien ist erschreckend groß. 3. Was als »gesellschaftstaugliche« Begründung scheinbar plausibel behauptet wird, muss überhaupt nicht dem Motivationschaos der betreffenden Personen entsprechen, die ihren Tod herbeisehnen. Und 4. geht es in der Debatte schon mehr als weniger darum, »die Bereitschaft zu töten und das Töten als gesellschaftliche Funktion zu akzeptieren, zu erhöhen«. Die Folgen, die sich für das Zusammenleben ergeben, lassen sich im demographischen Faktor festmachen. Zitiert wird der Journalist Jakob Augstein: »Wenn das Schule macht, wird die Frage ›Wohin mit Oma?‹ bald einen anderen Tonfall bekommen«.
In drei Abteilungen (Politik und Recht [Susanne Kummer, Axel W. Bauer; Günther Pöltner, Markus Rothhaar, Christian Hillgruber]; Medizin und Psychotherapie [Marcus Schlemmer, Andreas S. Lübbe, Christian Spaemann] und Theologische und philosophische Grundlagenfragen [Ulrich Eibach, Manfred Spieker, Marcus Knaup, Thomas Sören Hoffmann]) sowie einem angefügten Dokumentationsteil erschließen sich von unterschiedlichen Fachdisziplinen jeweilige Blickrichtungen auf die »Wahrung der Würde des Menschen auch in seinem Sterben« (11).
Der Begriff der Menschenwürde wird in dieser Debatte gerne in kleinen Münzen gehandelt, deren Währung unbekannt scheint. Markus Rothhaar beklagt eine »Überblendung« des Menschenwürdebegriffs (103) in den Selbstdarstellungen der hospizlichen Anbieter, indem Menschenwürde mit pflegerischen etc. Qualitätszuschreibungen gleichgesetzt wird. Im Rekurs auf Kants Autonomiebegriff bestimmt er das Selbstbestimmungsrecht als ein »Ab­wehrrecht, das die Unverfügbarkeit von Leib und Leben eines Menschen vor dem Zugriff durch Andere schützt« (105; ebenso Bauer, 49). Dann aber kann es nicht als Anspruchsrecht verstanden werden, das einem die notwendigen Mittel zur Selbsttötung in die Hand gibt.
»Der Staat ist […] aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für das menschliche Leben jedenfalls gehalten, Anstiftungen und Beihilfe zur Selbsttötung als rechtswidrig zu qualifizieren und zu verbieten […] er […] muss rechtlich verbindliche Verhaltensgebote in Form von Unterlassungspflichten statuieren.« (Hillgruber, 131) Die Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten würde diese Schutzpflicht insofern in Frage stellen, als ihnen in besonderer Weise eine Garantenpflicht zukommt. Eine Hinnahme ärztlicher Assistenz würde »das verfassungsrechtliche Verdikt praktisch konterkarieren, ja ins Leere laufen lassen« (Hillgruber, 133). So sehr dem Selbstbestimmungsbegriff mehr und mehr seine eigentliche Be­deutung als personaler Schutzbegriff vor fremder Instrumentalisierung verloren zu gehen droht, so sehr baut sich ein Verständnis von Selbstbestimmung auf, das als Anspruchsrecht an Dritte verstanden werden möchte.
Susanne Kummer macht darauf aufmerksam, dass es in der Debatte nicht einfach um die »Frage von Einzelfällen (geht), sondern um die Frage, wie wir als Gesellschaft in Zukunft leben wollen« (43). Mit dieser Feststellung allerdings stößt das Buch in seiner Konzeption an seine Grenzen. Die Stärke der Beiträge liegt unzweifelhaft in der kompakten und einmütigen Darbietung dieser auf das vorpolitische Recht des Lebensschutzes gerichteten Perspektive und in der Abwehr deskriptiver (oder libertärer) Ethikansätze. Manchmal schlagen resignierende Untertöne an. Manfred Spieker bemüht als Alternative zur aktiven Sterbehilfe »eine Wiederbelebung der Ars moriendi« (236) und endet gar mit der Sterbegeschichte Johannes Paul II. (241). Eine kontingenzsensible Gesellschaft nimmt unterschiedliche Perspektiven ein, die mitunter heftig in Konflikt geraten können. Alle beteuern, dass die Ängste und das Leiden der Betroffenen ernst genommen werden müssen.
Was das in diesem Fall bedeuten kann, demonstrieren Ulrich Eibach und Günther Pöltner anhand der palliativ-medizinischen Grenzfälle. Wenn die rechtlichen, philosophischen, religiösen oder medizinethischen Vorfestlegungen an ihre Grenze stoßen, weil Leben und Sterben einen unerwarteten und nicht mehr handelbaren Verlauf nehmen, kommt die Stunde der »Gewissensentscheidung« (Eibach, 210), die nur dadurch zu einer Gewissensentscheidung führt, als sie die ausnahmslos geltende Rechtssetzung im Wissen darum akzeptiert, dass diese Rechtssetzung in diesem be­sonderen Fall nicht wirklich den Leidenden vor seinem Leiden schützt und darum übertreten werden muss. Der tragischen Ausnahme, dem Einzelfall, kann man nur »im Wissen darum, dass hier in besonderem Maß die Epikie gefordert ist« (Pöltner, 96), gerecht werden. Das aber erfordert von Ärztinnen und Ärzten ein dementsprechendes Ethos, um zu einer solchen Haltung willig, fähig und bereit zu sein. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass auch »2015 viele Menschen nicht (wissen), was die Palliativmedizin leisten kann« ( Lübbe, 169). Eine gute Palliative Care führt gerade dazu, dass Menschen, die einen Suizid oder den assistierten Suizid wünschten, »in den meisten Fällen diesen Wunsch« nicht mehr aufrecht hielten (Schlemmer, 149).
Unter den beigefügten Dokumenten ist der Eid des Hippokrates von hervorragender Bedeutung (295 ff.). Die durch den Eid getroffenen Selbstfestlegungen geben der Signatur des Arztberufes eine eindeutige Bestimmung zur Erhaltung gefährdeten Lebens. Die Rolle als ärztlicher Suizidbegleiter wäre mit ihm jedenfalls nicht zu machen. Axel W. Bauer beklagt geradezu den »Verrat am Hippokratischen Eid« (66 f.). Sechs Stellungnahmen prominenter Institutionen und Organisationen im Sinne der Publikation schließen sich an und das gute Buch ab.