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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

396-397

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pernet, Martin W.

Titel/Untertitel:

Nietzsche und das »Fromme Basel«.

Verlag:

Basel: Verlag Schwabe 2014. 350 S. = Beiträge zu Friedrich Nietzsche, 16. Geb. EUR 89,00. ISBN 978-3-7965-3308-2.

Rezensent:

Niklaus Peter

»Der Antichrist« – ein solchermaßen betiteltes, fast druckfertiges Manuskript Friedrich Nietzsches wurde im Jahr 1889 von Franz Overbeck in den Papieren des in Turin umnachteten Denkers gefunden. Ursprünglich nur als Teil des geplanten Werkkomplexes »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe« gedacht, hatte der Basler Philosoph in einem Brief an Deussen (vom 26. November 1888) geschrieben, seine »Umwerthung« sei nun un­ter dem Haupttitel »Der Antichrist« fertiggestellt. Dies, nachdem er kurz zuvor noch den Untertitel »Fluch auf das Christenthum« hinzugefügt und auf einem Zusatzblatt selbst als »Antichrist« ein »Gesetz wider das Christenthum« erlassen hatte, »gegeben am Tage des Heils, am Ersten Tage des Jahres Eins (am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung)«.
Wer sich diese Dynamik einer zutiefst antichristlichen, sich stetig verschärfenden Tonlage und Argumentation im Werk Nietzsches vergegenwärtigt, wird zuerst einmal erstaunt sein, wenn er den Buchtitel von Martin Pernets Studie »Nietzsche und das ›Fromme Basel‹« zu deuten und verstehen versucht. Wie mag das denn nur zusammengehen? Haben wir es hier vielleicht mit einem weiteren der vielen unglücklichen Versuche einer christlichen oder theologischen Vereinnahmung Nietzsches zu tun?
Nach der Lektüre dieses sorgfältig recherchierten und gut ge­schriebenen Buches wird man sagen, dass dies keineswegs der Fall ist. In der Titelformulierung erschließt sich vielmehr das programmatische Anliegen des Buches: Es ist ein Versuch, die auffällig tiefe Verwurzelung Nietzsches in der Sprach- und Denkwelt eines neopietistischen Christentums sowohl biographisch als auch aufgrund des sozialen Bezugsfeldes des Pfarrersohnes nachzuweisen und dabei geistesgeschichtliche Verbindungslinien aufzuzeigen. Es ist das Anliegen P.s, noch in der Abwendung, noch in der schärfsten Kritik Nietzsches am Christentum Elemente pietistischer Theologie- und Kirchenkritik sichtbar zu machen. P., selbst Theologe und Pädagoge von Haus aus, hat mit seiner Dissertation »Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche« (1989) und einer Arbeit über »Religion und Bildung. Eine Untersuchung von Schulpforta« (2000) Kompetenz auf diesen Themenfeldern bewiesen.
Im ersten Kapitel werden das »Fromme Basel«, der Habitus, die politischen wie auch kirchlichen Positionen der Basler Patrizier in der Zeit von 1830 bis 1880 ausgesprochen lebendig skizziert, es werden die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen sowie auch die theologiepolitischen Hintergründe der Auseinandersetzungenzwi­schen den neopietistisch-konservativen und aufklärerisch-rationalistischen Formen des christlichen Glaubens entfaltet. Allein schon dieser erste Teil lohnt die Lektüre des Buches, weil darin Basler Theologiegeschichte aufgearbeitet ist in einer Weise, wie das bislang in dieser Perspektive noch nicht geschehen ist. Danach werden Nietzsches familiär-fromme Herkunft, die Pfarrerfamilien und Freunde, auch das christliche Milieu seiner prägenden Lehrer in Schulpforta und auf der Universität ausführlich beschrieben. Die Klammer dieser Teile bildet die Person des Basler Ratsherren Wilhelm Vischer-Bilfinger, der den unpromovierten Nietzsche so­zusagen im Alleingang an die Universität Basel geholt hatte. Im Anschluss daran gibt P. eine veritable Prosopographie all jener Köpfe aus dem Basler Umfeld des Philologen/Philosophen, angefangen von Vischer-Bilfinger selbst bis hin zu den Kollegen am Pädagogium, an der Universität und darüber hinaus. Wiederum als Klammer zum letzten Teil wird die »katalysatorische Wirkung« Basels auf Nietzsche in den »Lebensumständen«, im Musikleben, in der Bibellektüre aufgespürt, um schließlich in einem abschließenden Kapitel Nietzsches pietistisches Erbe in seiner Sprache, in den Affekten und Haltungen seiner Früh- und Spätschriften punktuell nachzuweisen.
Was man mit diesem Buch P.s in den Händen hält, ist nicht eine eigenständige, umfassende Nietzsche-Deutung aus einer gänzlich neuen Perspektive, sondern eher eine vielschichtige Beschreibung des in zahlreichen neueren Nietzsche-Interpretationen übersehenen, verdrängten und bewusst weggeschobenen religiösen Kontextes, aus dem heraus und gegen den man Nietzsche lesen und interpretieren muss, wenn man ihn wirklich verstehen will. Kritisch könnte man fragen, ob P. sich nicht explizit mit alternativen Deutungen der »Antichristlichkeit« Nietzsches hätte auseinandersetzen müssen, um dem Verdacht zu entgehen, dass er mit seinen biographischen und lokalhistorischen Forschungen der argumentativen Tiefe und der emotionalen Wucht dieses Philosophen und seinen epochalen Fragen ausweiche. Auf jeden Fall aber haben P.s Studien der künftigen Nietzscheforschung einen Themenkomplex auf die Agenda gesetzt, von welchem man nur hoffen kann, dass er künftig eingehender untersucht werden wird: wie nämlich dessen von Bibelsprache und Frömmigkeitstopoi übervollen Schriften, wie die emotional ins Extrem verschärfte Christentumskritik und eine selbstbezügliche »Christologie« (Dionysos, der alte/neue leidende und erhöhte Gekreuzigte) sachgemäß interpretiert werden müssen. Es sind – erstaunlicherweise – eher Nichttheologen wie der Germanist Heinrich Detering gewesen (»Der Antichrist und der Gekreuzigte«. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010), die hier in neuester Zeit eindrückliche Forschungsarbeiten vorgelegt haben.
Mit der platten weltanschaulichen Rezeption des Aphorismus 125 »Der tolle Mensch« aus der »Fröhlichen Wissenschaft«, der man auch in akademischen Gefilden so oft begegnet, ist es jedenfalls nicht getan, genauso wenig wie mit platter christlicher Apologetik:
»Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt!«
P. hat auf jeden Fall ein Buch vorgelegt, so dürfte deutlich geworden sein, dessen Lektüre nicht nur Nietzsche-Forschern und nicht nur den »Müßiggängern« in den Gärten der Geistes-, Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jh.s empfohlen sei, sondern eben wirklich auch jenen, die sich theologisch mit diesem großen und dem Christentum gerade auch mit seinem »Antichristentum« so nahen Denker und Sucher auseinandersetzen wollen.