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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

388-390

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zgoll, Annette, u. Reinhard G. Kratz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Hrsg. unter Mitarbeit v. K. Maiwald.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. X, 341 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-16-151800-3.

Rezensent:

Jürgen Mohn

Der zu besprechende Sammelband stellt sich unter die »Schirmherrschaft« des berühmten Buchtitels von Hans Blumenberg: »Arbeit am Mythos«. Blumenberg markierte mit Aufsätzen und seinem umfangreichen Buch aus den 1970er Jahren die erneute Wiederbeschäftigung mit dem Mythos, die eine Phase der Mythos-Ignoranz unter dem Zeichen der »Entmythologisierung« ablöste und an die philosophische Mythos-Arbeit von Ernst Cassirer aus den 1920er Jahren wieder anknüpfte. Nun, nach weiteren 40 Jahren, will der Sammelband, der eine Vortragsreihe in Göttingen dokumentiert, weitere »Arbeit am Mythos« präsentieren, indem er nach »Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart« – so die Absichtsbekundung im Untertitel – fragt.
Der einleitende Aufsatz der Herausgeber (Annette Zgoll/Reinhard G. Kratz) versucht systematisch, die Thematik im Anschluss an Blumenberg und im Durchgang durch die Beiträge des Bandes aufzuspannen. Und Axel Horstmann identifiziert in philosophischer Perspektive den Mythos als »Schlüsselthema der Moderne«. Weiterhin will der Aufsatz von Regina Bendix einen kulturanthropologisch-narratologischen Zugang zum Mythos darlegen. Alle anderen Beiträge wenden sich historischen Beispielen zu. Die jeweiligen definitorischen Annäherungen sind dabei – wie nicht anders zu erwarten – disparat. Den Beiträgen liegt keine einheitliche Arbeitsdefi-nition zugrunde. Nur die Herausgeber heben in systematischer Absicht verschiedene Ebenen des Mythos heraus: eine kognitive, die der Welt-Erklärung, eine affektive, die der Welt-Bewältigung, eine praktische, die der Welt-Ausgestaltung, und letztlich eine politisch-gesellschaftliche, die der Welt-Bewertung diene. Damit ist ein funktionaler Leistungscharakter des Mythos umschrieben, der in einen Vergleich mit der Leistung von Gesetzen mündet: Jenseits von wahr oder falsch stiften und gestalten Mythen wie Gesetze die Wirklichkeit. – Wenn die Herausgeber meinen, mit einem solchen Verständnis könne sich die »Mythosforschung neu dem Mythos« zuwenden, übersehen sie, dass dieser weltkonstruktive Charakter des Mythos bereits von Ernst Cassirer vorgegeben und 1985 von Kurt Hübner in seinem Buch über die »Wahrheit des Mythos« aufgegriffen und wissenschaftstheoretisch analysiert wurde. Es handelt sich bei diesem Verständnis des Mythos also keineswegs um eine neue Perspektive, sondern um eine altbekannte. Einen systematisch-vergleichenden Begriff arbeitet auch die religionswissenschaftliche Perspektive von Jörg Rüpke nicht heraus. Er präsentiert eher einige Aspekte, Probleme und viele antike Beispiele, die unter die »traditionellen Erzählungen« fallen und als »bedeutungsvolle« von anderen abzugrenzen wären.
Der Beitrag von Regina Bendix geht von einer »Wissenschaftsgeschichte der kulturanthropologischen Erzählforschung« aus und zieht die Konsequenzen aus ihrer kleinen ›Dogmengeschichte‹ der Mythos- und Erzählforschung in Richtung einer kritischen Transkulturalisierung der Erzählgattungen und damit Hinterfragung von kulturinternen Gattungsunterschieden. Letztlich sei alles Er­zählen sinnstiftend, da es die Lebenswelt organisiere und deute. Ihre Arbeit mündet damit aber in eine Selbstauflösung der Gattungsunterschiede aus Gründen interkultureller Übertragbarkeits­probleme und beendet damit eher die Arbeit am Mythos. Annette Zgoll reflektiert ihre Arbeit an altorientalischen Mythen, indem sie zeigt, dass Mythen von den Fundamenten des Lebens handeln und ›Wahrheit‹ im Sinne performativer Texte in die Wirklichkeit rufen. Frans A. M. Wiggermann zeigt den sichtbaren my­thologischen Hintergrund der Landschaft Mesopotamiens und verweist zumindest implizit darauf, dass die Tradierung und Rezeption mythischer Themen und Konzepte selbst eine Arbeit am Mythos darstellt. Denn sind die Mythen die Quellen der Rezeption, kann mit einem Diktum Blumenbergs darauf hingewiesen werden, dass die Rezeption der Mythen (Quellen) die Mythen der Rezeption (Quellen) schafft.
Die weiteren Aufsätze rekonstruieren Mythen unterschiedlicher Kulturen und Religionen ›bei‹ der Arbeit, indem sie deren Leistung aufzeigen: So zeigt Philip G. Kreyenbroeck die rezeptionsgeschichtliche Entstehung von Varianzen indo-iranischer Schöpfungsmythen im Veda und im Mithraismus. Hermann Spie­kermann hingegen leistet seine alttestamentliche Arbeit am Mythos, indem er die Unterscheidung von Mythos und Geschichte plausibel problematisiert. Reinhard G. Kratz verwendet am Beispiel der Flut-Mythen der orientalischen Antike und fundierenden Narra-tiven der Moderne Mythos als Vergleichsbegriff im Sinne einer rhetorischen Strategie des Verstehens des Lebens. Heinz-Günther Nesselrath beschreibt den funktionalen Wandel des Triptolemos-Mythos und Ulrike Egelhaaf-Gaiser untersucht Mythen als traditionelle Erzählungen anhand der Mesalla-Heldenlieder. Peter Ge­meinhardt zeigt anhand von Heiligenlegenden, wie die Funktion des Mythos im christlichen Binnendiskurs trotz der antiken christlichen Mythenkritik wahrgenommen wurde. Sebastian Günther geht dem schwierigen Verhältnis von Mythos und Islam anhand der literarischen »Arbeit« an der Kain und Abel-Geschichte in der arabisch-islamischen Kultur nach. Der Band wird mit der Dokumentation einer Inszenierung des altägyptischen Mythos von der Sonnenscheibe beschlossen.
So zeigt dieser wichtige Sammelband, dass die Arbeit an den historisch überlieferten Mythen der Antike weitergeht, aber die notwendige Arbeit am Mythos in der Gegenwart dadurch nicht eingeholt werden kann. Über historische Leistungen des Mythos erfährt der Leser viel, über die Gegenwart und die Grenzen der Arbeit am Mythos leider wenig.