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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

923 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kuhaupt, Georg

Titel/Untertitel:

Veröffentlichte Kirchenpolitik. Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 369 S. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 69. ISBN 3-525-55177-0.

Rezensent:

Thomas Kaufmann

Gegenstand der von Reinhard Schwarz betreuten Münchner Dissertation ist das Kirchenverständnis im Licht der kontroverstheologischen und konfessionspolitischen Publizistik in der "Ära der Religionsgespräche" (1538-1541). Im Zentrum steht dabei die Klärung des evangelischen Kirchenverständnisses in dieser Phase vor dem Hintergrund der allgemeinen Reichsgeschichte und die Rekonstruktion des historischen, theologischen und literarischen Zusammenhanges dieses Diskurses. Die gegenüber dem Interesse an der mit publizistischen Mitteln begleiteten Durchsetzungsphase der Reformation notorisch vernachlässigte Publizistik des späteren 16. Jh.s wird von Kuhaupt an einem besonders interessanten und durchaus kohärenten Gegenstand, den von ihm so genannten "kirchenpolitischen Publikationen" untersucht. Darunter werden Schriften zu "kirchenpolitisch relevanten Fragen ihrer Zeit", denen "von ihrer öffentlichen Wirkung her eine kirchenpolitische Funktion" (17) zuzuschreiben sei, verstanden. Der theologiegeschichtliche Diskurs wird im Horizont seiner politikgeschichtlichen Dynamik analysiert. Den historischen Ausgangspunkt bildet die auf eine Anregung des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. zurückgehende, mit der Politik der Religionsgespräche eingeleitete, auf die konfrontative Zuspitzung der sich konfessionell verfestigenden Religionsparteien reagierende Wende der habsburgischen Religionspolitik. Die diese ,Vermittlungspolitik’ begleitende Publizistik der Jahre 1538-1541 weist innerhalb der beiden Lager differente kirchenpolitische Konzeptionen auf.

Das Corpus der von K. untersuchten Texte besteht aus ca. 40 Schriften (in etwa 65 Ausgaben) und umfaßt Einzelschriften renommierter reformatorischer Theologen (Luther, Melanchthon, Corvinus, Bucer) und führender ,altgläubiger’ Vermittlungs- und Kontroverstheologen (Eck, Cochläus, Nausea, Witzel, Braun), kirchenpolitische Appellationen der Bundesmitglieder des Schmalkaldischen Bundes, Mandate ("Rechtstexte") Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel und Kaiser Karls V. Neben wirklichen Flugschriften sind - eine Stärke der themenbezogenen Untersuchungsperspektive - umfangreiche Traktate wie Luthers "Von Conciliis und Kirchen", "Wider Hans Worst" oder Melanchthons "De autoritate ecclesiae" berücksichtigt. In insgesamt fünf Kapiteln werden die einschlägigen Texte im Zusammenhang 1. des Frankfurter Bundestages der Schmalkaldener (Februar-April 1539), 2. des Schmalkaldischen Bundestages in Frankfurt (Februar-April 1540), 3. des Hagenauer Gespräches (Mai-Juli 1540), 4. des Wormser Religionsgesprächs (Oktober 1540-Januar 1541) und 5. bis zum beginnenden Regensburger Reichstag (ab Februar 1541) minutiös und in ihrer wechselseitigen publizistischen Verflechtung analysiert. Für die seit einigen Jahren auch aus ökumenisch-theologischen Interessen heraus ambitionierten Forschungen zu den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg bietet K.s Studie die unerläßliche publizistische Basis.

Als Adressaten dieser Publizistik benennt der Vf. nicht allein die reformatorische Öffentlichkeit als solche, sondern die von ihm sog. "kirchenpolitische Öffentlichkeit", womit insbesondere die kirchlichen, administrativen und politischen Entscheidungsträger im Reich gemeint sind. Im Lichte der von K. zum Teil sehr sorgfältig rekonstruierten Bemühungen einzelner Autoren, die Verbreitung ihrer Schriften durch Übersendung an entsprechende Funktionsträger zu beeinflussen, leuchtet das grundsätzlich ein. Freilich stellt die Druckverbreitung einen Übergang an die "lesefähige Öffentlichkeit" im ganzen dar, so daß der Distinktion zwischen intendierten Primäradressaten und allgemeiner Öffentlichkeit nur eingeschränkte Plausibilität zukommt.

Daß der ,Popularitätsgrad’ dieses Schrifttums deutlich hinter der frühreformatorischen Publizistik zurückbleibt, entspricht der z. T. diffizilen Thematik und der Grundsätzlichkeit, in der es behandelt wird. Die kirchenpolitische Publizistik spiegelt eindrücklich, daß die evangelischen Stände und ihre Theologen an der Idee der Einheit der Kirche festhielten und - dies gilt vor allem für Bucer und Melanchthon - in bezug auf Recht, Lehre und Gottesdienstordnung den Identitätsanspruch der reformatorischen Kirchentümer mit der wahren Kirche historisch und theologisch zu erweisen suchten. Der Unterscheidung zwischen der Kirche Jesu Christi als Glaubensgemeinschaft und ihrer institutionellen Verfaßtheit kam bei den evangelischen Autoren eine fundamentale theologische und kirchenpolitische Bedeutung zu. Bei den erasmianisch geprägten Vermittlungstheologen und Politikern (besonders von Karlowitz und Witzel) konstatiert K. eine theologische "Unbedarftheit gegenüber der Frage, was und wo die ,wahre’ Kirche ihrem Wesen nach sei und wer sie repräsentiere" (314). Die römischen Prinzipialisten, etwa Cochläus oder der einflußreiche Jurist am Reichskammergericht Konrad Braun, kennzeichnet eine definitive Absage an das ekklesiologische Wahrheitsbewußtsein der Protestanten. "Treibendes Motiv der kirchenpolitischen Publizistik der Protestanten ist ihr Ringen um die öffentliche Anerkennung ihres Kirchenverständnisses in theologischer Theorie und kirchlich-rechtlicher Praxis" (314).

Deutlich ist, daß die protestantische Seite ihre Publizistik offensiv und maßgeblich in der Volkssprache betrieb und mit einem theologisch im Priestertum aller Getauften begründeten ,Bildungsanspruch’ der Öffentlichkeit vertrat. Die altgläubige Seite verhielt sich im ganzen eher reaktiv und überwand die traditionelle Bindung an die Gelehrtensprache kaum einmal. Die Beobachtungen, die sich für die ,konfessionsspezifischen’ Umgangsweisen mit der Öffentlichkeit in der frühreformatorischen Durchsetzungsphase ebenso wie in der Publizistik der Frühneuzeit im ganzen ausmachen lassen, werden an diesem Beispiel cum grano salis bestätigt.

Die vornehmliche Leistung der Arbeit K.s besteht m. E. darin, eine Reihe von Texten der Jahre 1538-1541 in einen Zusammenhang gestellt und die zentrale Bedeutung der ekklesiologischen Thematik, die häufig hinter der Bemühung um das Rechtfertigungsverständnis im Rahmen der Religionsgespräche zurückgetreten ist, aufgewiesen zu haben. Die tiefgreifenden interkonfessionellen Differenzen im Kirchenverständnis, aber auch die beträchtliche innerreformatorische Pluralität der ekklesiologischen und ,ökumenestrategischen’ Ansätze wird deutlich. Eine theologiegeschichtliche Themenstellung ist in überzeugender Weise um publikationsgeschichtliche Aspekte bereichert und damit in ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Bedeutung zur Darstellung gebracht worden.