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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

379-380

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Süselbeck, Heiner

Titel/Untertitel:

Niemanden verloren geben. Briefwechsel zwischen Helmut Gollwitzer und Hermann Schlingensiepen 1951–1979.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. 337 S. = Korrespondenzen, 2. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-12673-3.

Rezensent:

Martin Honecker

Hermann Schlingensiepen (1896–1980) ist einer der weithin Vergessenen. Seit 1957 war er gelähmt. Das hinderte ihn an einem öffentlichen Auftreten. Umso mehr führte er eine sehr weit ausgreifende und auch sehr ausführliche Korrespondenz. Sein Sohn Ferdinand Schlingensiepen, Verfasser einer Biographie Bonhoeffers, hat den Nachlass und vor allem den Briefwechsel mit Helmut Gollwitzer zugänglich gemacht. Dadurch entstand eine Dissertation in Wuppertal an der Kirchlichen Hochschule, die 2013 unter dem an Cal-vin angelehnten Titel »Caritas ad perversos« angenommen wurde (10 f.). Ihr Autor Heiner Süselbeck war von 2002 bis zu seinem Ruhestand 2010 Rektor des Pastoralkollegs der Rheinischen Kirche.
Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: einem Überblick über die Biographie Schlingensiepens und einer thematischen Wiedergabe und Analyse des Briefwechsels, in dessen Mitte die schriftlichen Äußerungen Schlingensiepens zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen stehen.
Die Biographie des Briefschreibers ist im Kontext der Zeit wenig herausragend. Seine Dissertation 1927 galt Calvins Auslegung der Bergpredigt und umfasst im Druck 28 Seiten, die Habilitation über Erasmus als Exeget war kaum umfangreicher – 46 Seiten. Später meinte Schlingensiepen, dass er sich wegen seiner Arbeiten »von Recht wegen nur noch schämen könne« (22). Nach Lehrstuhlvertretungen wurde er 1933 Direktor des Kirchlichen Auslandsseminars in Ilsenburg der Altpreußischen Union und geriet unvermeidlich an dieser Stelle auf der Seite der Bekennenden Kirche in Konfrontation mit dem Kirchlichen Außenamt unter Theodor Heckel. Nach der Schließung des Auslandsseminars 1938 wurde er Pfarrer in Siegen und war dann von 1945 bis 1952 Professor für Praktische Theologie in Bonn, ehe er 1952 Ephorus an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal wurde. In die Bonner Zeit fiel seinerzeit die unerfreuliche Auseinandersetzung um die Berufung von Ernst Fuchs, die am Einspruch der rheinischen Kirchenleitung scheiterte. Schlingensiepen stand auf Seiten der Kirchenleitung und in der Bultmann-Schule wurde er als »Bonner Kamel« betitelt (9).
Nach einer Einführung in »I. Themen und Eigenart des Briefwechsels« (15 ff.) befasst sich Kapitel II »Der theologische Werdegang Hermann Schlingensiepens« (19–75) mit der Vita. Dabei wird der historische Kontext weithin nur angedeutet und vor allem die persönliche Entwicklung des Briefschreibers vorgestellt.
Der 2. Teil wertet den Briefwechsel in thematischen Schwerpunkten aus. Im Mittelpunkt steht das Bemühen Schlingensiepens um eine Seelsorge an NS-Verbrechern. Dabei ist die Gliederung jedoch etwas ungeschickt, da zwischen der grundsätzlichen Reflexion der Versuche einer Seelsorge an NS-Verbrechern (115 ff.) in Kapitel IV und Beispielen einer Seelsorge durch Briefe an einzelne verurteilte NS-Verbrecher in Kapitel VII (239 ff.) andere Themen eingeschoben sind. Kapitel III bringt die Einwände des Schreibers an Gollwitzers exponierter Stellungnahme im Ost-West-Konflikt und im Streit um die Atomrüstung zur Darstellung. Schlingensiepen verteidigt hier Adenauers Politik und teilt nicht die linksprotestantische Option seiner ehemaligen Mitkämpfer in der Bekennenden Kirche. Kapitel V erörtert: »Politische Predigt: Notwendigkeit und Wagnis« (185 ff.), Kapitel VI ringt »Um die Einheit unter dem Evangelium in der Ökumene« (219 ff.). Dabei strebt Schlingensiepen als Schlatterschüler als eine Vermittlung zwischen der Bekenntnisbewegung »Kein anders Evangelium« und der kritischen Bibelexegese an.
Im Mittelpunkt des Briefwechsels steht in Kapitel IV freilich das intensive Bemühen einer Seelsorge an NS-Verbrechern. In einem sehr grundsätzlichen Austausch Schlingensiepens mit dem Ehepaar Just-Dahlmann (128 ff.) steht die Frage, ob über dem Bemühen um ein Verständnis der Täter nicht die Perspektive der Opfer zu kurz kommt. Just-Dahlmann tritt entschieden für die Bestrafung der Täter ein, allein schon um des Respekts gegenüber den Opfern willen. Schlingensiepen steigert sein Engagement, die Täter zur Einsicht zu bringen, bis zum Vorschlag einer »Solidaritätshaft«, in der Seelsorger mit verurteilten Straftätern eine Zeit in der Haft die Zelle teilen sollten. Der Vorschlag wurde von seinen Briefpartnern abgelehnt und ist bei näherem Nachdenken abwegig. Auch die Briefwechsel mit verurteilten NS-Verbrechern – Wilhelm Boger, dem früheren Theologen Artur Wilke, Wilhelm Greiffenberger – in Kapitel VII zeigen klare Grenzen eines derartigen seelsorgerlichen Bemühens auf. Die Kritik an diesen Vorschlägen ist berechtigt (274 ff.), da derartige Vorschläge gegenüber den Tä­tern auf die Opfer und deren Nachkommen verheerend wirken müssen (276). Gnade, evangelisch verstanden, kann nicht die weltliche Strafe ersetzen.
Der Vf. vergleicht am Ende die gängige Strafrechtstheorie im Blick auf NS-Täter mit den Auffassungen Helmut Gollwitzers und Hermann Schlingensiepens (291). In der Tat ist die Bestrafung von NS-Tätern – und vergleichbaren Verbrechern – aporetisch, da we­der Abschreckung noch Resozialisierung als Strafzweck zu erreichen sind, sondern allenfalls der Gedanke der Sühne bleibt und vor allem der Anspruch der Opfer auf Aufklärung und Anerkennung zu beachten ist. Schlingensiepen nähert sich in der Solidarität mit NS-Verbrechern schließlich der Lehre von der Allversöhnung an (297 ff.).
Das abschließende Kapitel X »Ergebnisse« (309–317) fasst zu­sammen. Zutreffend wird zunächst betont: »Persönliche Briefe enthalten ungeschützte Äußerungen. Sie gewähren Einblicke in spontane und vertraulich-gewagte Mitteilungen, auch dann, wenn sie öffentliche Vorgänge kommentieren.« (309) Schlingensiepen als Vielschreiber holt zudem gelegentlich sehr weit aus. Und er will als ein Behinderter, der am öffentlichen Leben nicht teilnehmen kann, gleichwohl in Diskussionen eingreifen. Das ist der Leitfaden der Wiedergabe des gesamten Briefwechsels. Dabei ergibt sich freilich keine klare gedankliche Linie. So ist etwa im Kapitel »Politische Predigt« ein Festschriftbeitrag über Savanarola eingefügt (196 ff.).
Schlingensiepen teilt auch, als Sohn eines Wuppertaler Unternehmers, nicht Gollwitzers Option und Begeisterung für einen parteilichen Sozialismus (206). Insofern ist es durchaus angemessen, gerade im Rheinland, auch die Stimme eines von der Bekennenden Kirche geprägten, aber nicht linksprotestantischen, sondern konservativen Theologen zu Gehör zu bringen. Anerkennung verdient also das Bestreben, an einen vergessenen Praktischen Theologen zu erinnern. Der Briefwechsel ist ferner eine zeitgeschichtliche Dokumentation.
Jedoch sind es Einzelthemen, die kein geschlossenes Gesamtbild ergeben und die zudem genauer in den zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen wären. Am Ende steht die Einsicht, dass auch steile theologische Aussagen nicht Gegensätze bei moralischen Beurteilungen und politischen Entscheidungen zu lösen im Stande sind und dass dennoch die persönlichen Beziehungen bestehen bleiben.